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711âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Die Worte des Vaters besitzen einen magischen Konstitutions-, einen schöpferischen
Benennungseffekt, weil sie unmittelbar den Körper ansprechen, der Freud zufolge
die Metaphern wörtlich nimmt. So erklĂ€rt sich denn auch, warum die âBerufungâ fĂŒr
gewöhnlich so erstaunlich an das angepaĂt erscheint, das (dem Geschlecht, dem Ge-
burtsrang und manch anderen Variablen entsprechend) tatsÀchlich erreichbar ist.1109
Unter der Hand aber drĂŒckt sich Agathes Widerwille in einer eigenartigen
âTeilnahmslosigkeitâ (MoE 951) aus, die seit ihrer frĂŒhesten Kindheit zu beob-
achten ist (vgl. unten) und auch noch von ihrem Gatten Hagauer konstatiert
wird : âEs war [âŠ] etwas an ihr, das nicht zu ihm und nicht zu anderen Men-
schen und ihren Interessen stimmteâ (MoE 951). Wenn man bedenkt, dass
sich die âradikalsten Revolten der Kindheit und der Jugendâ hĂ€ufig âweniger
gegen den Vater als gegen den unwillkĂŒrlichen Gehorsam gegenĂŒber dem
gehorsamen Vaterâ richten, âgegen die eigene erste Regung, ihm zu folgen
und sich seinen GrĂŒnden zu beugenâ1110, dann gilt dies ebenso fĂŒr Agathes
weniger offensichtliche, aber psychologisch umso konsequentere Form der
Verweigerung. Schon als Kind beginnt sie, sich aus der ârealenâ Welt zurĂŒck-
zuziehen, und exemplifiziert dadurch ein besonderes Vermögen der Frauen,
die unter der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ per definitionem aus den gesellschaft-
lichen âMachtspielenâ ausgeschlossen sind : âNoch so ernsten Spielen gegen-
ĂŒber können sie den distanzierten Standpunkt des Betrachters einnehmen, der
das Unwetter vom sicheren Ufer aus beobachtet â was sie in den Ruf bringen
kann, leichtfertig zu sein und unfĂ€hig, sich fĂŒr die ernsten Dinge wie etwa die
Politik zu interessieren.â1111 Genau Letzteres wird ihr von Hagauer â der zeit-
genössischen pseudowissenschaftlichen Diktion entsprechend â als âsozialer
Schwachsinnâ der Frau vorgehalten (MoE 951 f.).
Freilich sollte dabei nicht vergessen werden, dass auch diese weibliche
âDistanz ein Herrschaftseffekt istâ1112. Dennoch erlaubt sie eine illusionsfreie
Sicht auf jene âMachtspieleâ, die durch den involvierten Blick der MĂ€nner
hÀufig nicht als solche erkannt werden können. Zu beobachten ist dies etwa
angesichts der leidenschaftlich gefĂŒhrten Debatten wĂ€hrend des âgroĂe[n]
Abend[s]â (MoE 994) in Diotimas Salon an Agathes relativ teilnahmslosem
1109 Ebd., S. 125 ; vgl. ebd., S. 126 : âDas âNeinâ des Vaters braucht weder ausgesprochen noch
gerechtfertigt werden. Es gibt fĂŒr ein vernĂŒnftiges Wesen (âSei vernĂŒnftigâ, âspĂ€ter wirst du
das verstehenâ) keine andere Wahl, als sich umstandslos der höheren Macht der Dinge zu
beugen.â
1110 Ebd., S. 128.
1111 Ebd., S. 134.
1112 Ebd.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208