Page - 717 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 717 -
Text of the Page - 717 -
717âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
tive âKraftâ sozialen Avancements â ein symbolisches Kapital, das auch ihrem
Gatten nicht verborgen bleibt (vgl. MoE 106), obwohl zunÀchst wenig in diese
Richtung gedeutet hatte :
Diotimas Ehrgeiz war lange Zeit nahe daran gewesen, in der vornehmen Aussichtslo-
sigkeit der fĂŒnften Rangsklasse zu enden, ehe durch einen Zufall plötzlich der Aufstieg
ihres Mannes [âŠ] begann, und von diesem Augenblick an belebte sich auch in Dio-
tima fast zu ihrem eigenen Erstaunen ein Schatz von Erinnerungen an âgeistige Schön-
heit und GröĂeâ, den sie sich angeblich im kulturvollen Elternhaus und in den Zen-
tren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzĂŒgliches
Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der [âŠ] un-
gemein verlĂ€Ăliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkĂŒrlich
auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos [âŠ], indem sie, sobald
sie wahrnahm, daĂ man ihre geistigen VorzĂŒge bemerkte, mit groĂer Freude kleine
âhochgeistigeâ Ideen an passenden PlĂ€tzen in ihre Unterhaltung einflocht. (MoE 97 f.)
Zu Hilfe kommt ihr dabei die in ihrer Schulzeit entwickelte Gabe, âwie ein
feuchtes SchwĂ€mmchenâ alles Mögliche, was ihr zu Ohren kommt, âohne
besondere Verwendungâ in sich aufzunehmen und bei passender Gelegen-
heit âwieder von sichâ zu geben (MoE 98).1132 Diese Fertigkeit der soforti-
gen diskursiven Anverwandlung von Gehörtem und Gelesenem prÀdestiniert
gemeinsam mit ihren nahezu perfekten Manieren und ihrem ansprechenden
ĂuĂeren ihre sukzessive Entwicklung zur geachteten Gesellschaftsdame, was
wiederum verstĂ€rkend auf das positive Selbstbild zurĂŒckwirkt :
[A]llmÀhlich, wÀhrend ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute
ein, die seine NĂ€he suchten, und ihr Haus wurde zu einem âSalonâ, der in dem Ruf
stand, daĂ âGesellschaft und Geistâ dort einander begegneten. Jetzt, im Verkehr mit
Menschen, die auf verschiedenen Gebieten etwas bedeuteten, begann Diotima auch
ernstlich sich selbst zu entdecken. Ihre Korrektheit, die noch immer aufpaĂte wie in
der Schule, das Gelernte gut behielt und es zu einer freundlichen Einheit verknĂŒpfte,
wurde geradezu von selbst zu Geist, einfach durch Erweiterung, und das Haus Tuzzi
gewann eine anerkannte Stellung. (MoE 98)
1132 Es handelt sich dabei offenbar um eine notwendige habituelle Ausstattung fĂŒr eine SalonniĂšre,
wie Ackerl : Wiener Salonkultur um die Jahrhundertwende, S. 699 f., hinsichtlich der oben
erwĂ€hnten Bertha Szeps-Zuckerkandl bestĂ€tigt : âIn ihr manifestiert sich fast idealtypisch die
hochintellektuelle Salondame, die wie ein Schwamm politische und kĂŒnstlerische Anregun-
gen aufnimmt und weitergibtâ.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208