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722 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
kret benĂŒtzten Vorteil und vermochte nicht die Erkenntnis zurĂŒckzudĂ€mmen, daĂ in
den Hauptdingen das Leben auf den Missionen das mit dem andren GepÀck von zu
Hause mitgebrachte Leben bleibt. (MoE 97)
Dies gilt insbesondere fĂŒr das Eheleben im engeren Sinn, das sich auf Dauer
als recht ernĂŒchternd erweist. FĂŒr ihr âkleines Kapital von LiebesfĂ€higkeit,
das sie zur Zeit ihrer Heirat besessen hatteâ, findet Diotima bei ihrem Gatten
nĂ€mlich ânicht die rechte Anlagemöglichkeitâ (MoE 104), wie der ErzĂ€hler
bezeichnenderweise in ökonomischer Metaphorik formuliert. Konkreter ge-
sagt :
Diotima lernte [âŠ] die Liebe als etwas Heftiges, Anfallweises, kurz Angebundenes
kennen, das von einer noch stÀrkeren Gewalt nur einmal in jeder Woche losgelassen
wurde. Diese VerÀnderung des Wesens zweier Menschen, die auf die Minute begann,
um wenige Minuten spĂ€ter in ein kurzes GesprĂ€ch ĂŒber nachzutragende Tagesereig-
nisse und dann in planen Schlaf ĂŒberzugehn, etwas, wovon man in der Zwischenzeit
nie oder höchstens in Andeutungen und Anspielungen sprach (etwa so, daà man
ĂŒber die âpartie honteuseâ des Körpers einen diplomatischen Scherz macht), hatte
jedoch unerwartete und widerspruchsvolle Folgen fĂŒr sie. (MoE 105)
Ungeachtet des sozialen Aufstiegs, fĂŒr den ja ihre Ehe mit Tuzzi hauptverant-
wortlich ist, stellt sich mit deren fortschreitender Dauer bei Diotima nÀmlich
eine gewaltige emotionale und sexuelle Frustration ein (vgl. MoE 104â107),
die zumindest verbal eine hemmungslose Sublimierungsarbeit auslöst1145, wie
der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich anmerkt :
Einesteils wurde es die Ursache ihrer ĂŒbermĂ€Ăig angeschwollenen IdealitĂ€t ; jener
offiziösen, nach auĂen gewandten Persönlichkeit, deren Liebeskraft, deren seelisches
Verlangen sich auf alles GroĂe und Edle ausdehnte, das in ihrem Umkreis sichtbar
wurde, und so innig sich daran verteilte und damit verband, daĂ Diotima jenen die
MĂ€nnerbegriffe verwirrenden Eindruck einer mĂ€chtig glĂŒhenden, aber platonischen
Liebessonne hervorrief, durch dessen Schilderung Ulrich auf ihre Bekanntschaft neu-
gierig geworden war. Andrerseits aber hatte sich der breite Rhythmus ehelicher Be-
rĂŒhrung rein physiologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt, die ihre Bahnung
fĂŒr sich besaĂ und sich ohne Verbindung mit den höheren Teilen ihres Wesens wie
der Hunger eines Knechts meldete, dessen Mahlzeiten spÀrlich, aber krÀftig sind.
(MoE 105)
1145 Vgl. Leue : Diotima : âSeelenriesinâ und âRiesenhuhnâ, S. 333.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208