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736 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
kunstfeindlichen Sichtweise, âdaĂ die Kunst eine Erholung von der Wirklich-
keit sei, mit dem Zweck, erfrischt zu dieser zurĂŒckzukehren !â (MoE 573) Wie
dieses vormoderne, nicht erst im 20. Jahrhundert klischeehaft gewordene
KunstverstÀndnis1184 zeigt, bleibt der Bezugspunkt ihres doch so idealistischen
Denkens letztlich stets die herrschende RealitĂ€t, von tatsĂ€chlichem âMög-
lichkeitssinnâ kann keine Rede sein. So gelingt es ihr auch nicht, in kulturell
produktiver Weise die Rolle der SalonniĂšre einzunehmen. In den groĂen Zei-
ten der urbanen Kultur Europas hatte diese âmittels ihres Salonsâ die soziale
âFunktion als Mittler[in] zwischen â schlechthin dominierenden â âBĂŒrgernâ
und den â dominiert-dominierenden â âKĂŒnstlernââ erfĂŒllt.1185 Sie gewĂ€hrleis-
tete einen regelrechten sozialen Austausch, von dem beide Seiten â und nicht
zuletzt sie selber â profitierten : Indem die SalonniĂšre den bĂŒrgerlichen Auto-
ren jenen Freiraum gewÀhrte, in dessen Rahmen der erste schriftstellerische
Autonomisierungsschub stattfand, konnte sie sich selbst von den damals herr-
schenden rigiden Festschreibungen der adeligen Frauenrolle emanzipieren.1186
Bei dieser Mittlerrolle handelt es sich gemeinhin um eine soziale SchlĂŒsselpo-
sition, die sich im Falle Diotimas allerdings entschieden einseitiger darstellt,
weil sie den vermittelnden Part gerade nicht spielt1187, sondern vom Geist und
der Seele zwar viel spricht, in ihrem konkreten Handeln aber eindeutig die
1184 Bereits Schiller : Ăber naive und sentimentalische Dichtung, S. 481, bringt in seiner Polemik
gegen den âso falsch verstandene[n], wiewohl an sich wahre[n] Begriff, daĂ man sich bey
Werken des schönen Geistes erholeâ, die enthomogenisierenden Auswirkungen der arbeitstei-
ligen Gesellschaft in Anschlag : âDie gemeine Natur nehmlich, wenn sie angespannt worden,
kann sich nur in der Leerheit erholen, und selbst ein hoher Grad von Verstand, wenn er nicht
von einer gleichmĂ€Ăigen Kultur der Empfindungen unterstĂŒtzt ist, ruht von seinem GeschĂ€fte
nur in einem geistlosen SinnengenuĂ aus.â Mehr dazu ebd., S. 486â489.
1185 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 28.
1186 Vgl. Becker : Mann und Weib â schwarz und weiĂ, S. 16 u. 98â105, wonach die französische
AufklÀrung mit den durch adelige Frauen geleiteten Salons eingesetzt hat, nachdem der so-
ziale Status allein zum Eintritt in das Feld der Macht nicht mehr hinreichte und persönlich
erworbene Bildung zu einer weiteren Voraussetzung dafĂŒr geworden war.
1187 Wie oben bereits ausgefĂŒhrt, trieben die urbanen Salons des beginnenden 20. Jahrhunderts die
Frauenemanzipation tatsÀchlich kaum noch entscheidend voran, weil die weibliche Bildung
lĂ€ngst nicht mehr auf den Salon allein angewiesen war und die ĂŒberkommene salontypische
Vorstellung einer ânatĂŒrlichenâ Kultur der Frau gleichzeitig einem ideologischen Erstarrungs-
prozess anheimfiel bzw. in Konkurrenz zu weiterreichenden emanzipatorischen Bestrebungen
auf der Basis anderweitig erworbener Bildung geriet. Vgl. dazu die von Ackerl : Wiener Salon-
kultur um die Jahrhundertwende, S. 708, diagnostizierten charakteristischen emanzipatori-
schen Defizite der Salons in der frĂŒhen Moderne : âDas polare SpannungsverhĂ€ltnis zwischen
matriarchalem und patriarchalem Extrem [âŠ] wird als solches nicht bewuĂt. Der Damensa-
lon erweist sich in dieser Fragestellung als Freiraum der intellektuellen Frau fĂŒr reproduktive
KunstbetĂ€tigung jeglicher Form, ProduktivitĂ€t wird noch [âŠ] ignoriert bzw. verhindert.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208