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747âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
einer âanderen Wirklichkeitâ einhergeht, zumal Agathe keine âSympathieâ zu
bzw. âPartizipationâ mit den GegenstĂ€nden der vorgeschriebenen schulischen
Anforderungen entwickeln kann :
In Ă€hnlicher Art hatte sie [âŠ] auch in der Schule gelernt, so daĂ sie niemals wuĂte,
ob sie dumm oder klug, willig oder unwillig sei : die Antworten, die man von ihr ver-
langte, prÀgten sich ihr mit Leichtigkeit ein, ohne daà sich ihr aber der Zweck dieser
Lernfragen eröffnet hĂ€tte, gegen den sie sich von einer tiefen inneren GleichgĂŒltigkeit
geschĂŒtzt fĂŒhlte. (MoE 726 f.)
Obwohl Agathe âdie ganze Verachtung des zum Aufruhr geborenen Men-
schen gegen die[ ] schlichte Einfachheit in sichâ trĂ€gt (MoE 859), ist sie keine
juvenile Heldin des Widerstands â im Gegenteil, wie eine bezeichnende Pas-
sage erlĂ€utert, in der Böhme âdie Grundstruktur der ganzen Figur Agatheâ1219
enthalten sieht :
Sie war nach ihrer Erkrankung genau so gern wieder in die Schule gegangen wie
vorher, und weil einer der Ărzte auf den Rat verfallen war, daĂ es von Vorteil sein
könnte, sie der Einsamkeit des vÀterlichen Hauses zu entziehn und mit Gleichaltrigen
zusammenzubringen, hatte man sie in ein geistliches Institut getan : sie galt auch dort
fĂŒr heiter und lenksam und besuchte spĂ€ter das Gymnasium. Wenn man ihr sagte,
etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von
ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wÀre
ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr
keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem
Willen von VĂ€tern und Lehrpersonen aufgebaut war. (MoE 727)
In keiner Weise begehrt Agathe wie der junge Ulrich âgegen feste Einrich-
tungenâ des Lebens auf, die nach ihrem DafĂŒrhalten aufgrund ihrer Ă€uĂeren
MachtstĂŒtze und gleichzeitig inneren Bedeutungslosigkeit ein solches Aufhe-
ben gar nicht verdienen. Handlungsleitend ist bei ihr statt des Willens zur
Revolte vielmehr die bestmögliche Strategie zur Unlustvermeidung bzw. zur
Vermeidung von Anstrengung, die ihres Erachtens andernfalls nur sinnlos
verschleudert werden wĂŒrde. Dies gilt auch und gerade im intellektuellen
Bereich, insbesondere hinsichtlich jener wissenschaftlichen Reflexion mit all-
gemeinerem Anspruch, die ihr Bruder so liebt : âSie hatte [âŠ] ein Vorurteil
gegen allgemeine Untersuchungen und hielt jede Anstrengung, die sozusagen
1219 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 196.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208