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755âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
âZustand der Liebe [âŠ], der GĂŒte, der Weltabgekehrtheit, der Kontempla-
tion, des Schauens, der AnnĂ€herung an Gott, der EntrĂŒckung, der Willenlo-
sigkeit, der Einkehr und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in
Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker [âŠ] ĂŒbereinstimmend
wiederkehrtâ, wie Musil in seinen AnsĂ€tzen zu neuer Ăsthetik den âanderen Zu-
standâ umschreibt (GW 8, 1144). Die aus der Perspektive des ânormalen Zu-
standsâ inkriminierte Willens- und Entschlusslosigkeit Agathes, ja ihre gesamte
eigenartige Lebensferne liegt in dieser habituellen Disposition begrĂŒndet. âSie
hat keine âWeltanschauungâ, d. h. keinen bestimmten Gesichtspunkt, den sie
zum allein bestimmenden erheben und damit zum Wirklichkeitsbildner privi-
legieren wĂŒrde.â1234
Die merkwĂŒrdig distanzierte Haltung Agathes gegenĂŒber der herrschenden
Wirklichkeit, die im Romankosmos ihresgleichen sucht, weist in ihrer distink-
ten Erscheinungsform gleichwohl eine strukturelle Homologie zum essayisti-
schen Denken ihres Bruders auf : Sie verkörpert nÀmlich mehr noch als dieser
die programmatische âTranszendierung aller Festlegungen des Menschenâ1235
bzw. âdas Nichtfestgelegtsein, die Indeterminiertheit, in Person. [âŠ] Nichts
berĂŒhrt sie im Tiefsten und Wesentlichen. Denn sie durchschaut die Rollen-
haftigkeit allen menschlichen Verhaltens und weigert sich, ein Spiel als abso-
lute, verbindliche Wahrheit zu akzeptierenâ1236 â und sei es das regelgeleitete
soziale Spiel, das dem Funktionieren eines Gemeinwesens zugrunde liegt und
das eine entsprechende illusio verlangt â also âdie Tatsache, daĂ man vom
Spiel erfaĂt, vom Spiel gefangen ist, daĂ man glaubt, daĂ das Spiel den Einsatz
wert ist oder, um es einfach zu sagen, daĂ sich das Spielen lohntâ1237. Genau
diese illusio im Sinne der âTatsache, daĂ man einem sozialen Spiel zugesteht,
daĂ es wichtig istâ1238, fehlt nun Agathe in besonderer Weise, was auch auf
ihre geschlechtsspezifische Sozialisation zurĂŒckzufĂŒhren ist, denn :
Die ursprĂŒngliche, fĂŒr die MĂ€nnlichkeit konstitutive illusio liegt sicherlich der libido
dominandi in all den spezifischen Formen in den verschiedenen Feldern zugrunde.
Diese illusio bewirkt, daĂ die MĂ€nner (im Gegensatz zu den Frauen) gesellschaftlich
1234 Sokel : Agathe und der existenzphilosophische Faktor, S. 112.
1235 Ebd., S. 111.
1236 Ebd., S. 112 ; fast gleichlautend folgende Passage in Zingel : Ulrich und Agathe, S. 68 : âVor der
Begegnung mit Ulrich ist sie die Nichtfestgelegtheit in Person. Nichts kann sie ĂŒberzeugen
oder wirklich involvieren. Sie durchschaut die Rollenhaftigkeit des menschlichen Daseins und
weigert sich, ein Spiel als verbindliche Wahrheit zu akzeptierenâ.
1237 Vgl. Bourdieu : Ist interessenfreies Handeln möglich ?, S. 140 f.
1238 Ebd., S. 141.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208