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766 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Buch des Mann ohne Eigenschaften eben dieses mÀnnliche Stereotyp bedient.
Agathe scheint davon genauso wenig anfechtbar zu sein wie von den damals
modischen Formen eines mit allen Registern des Psychoterrors gefĂŒhrten Ge-
schlechterkampfes, die in der Dramaturgie des Fin de siĂšcle den ĂŒberkomme-
nen tragischen Konflikt ersetzten und in Musils Roman nur in der völlig untra-
gischen Schwundform verschiedener eher langsam zermĂŒrbter als pathetisch
zerrĂŒtteter Ehen begegnen.
Allerdings wird es bei Agathes abgeklÀrter Haltung nicht auf Dauer blei-
ben. So fĂŒhlt sich die auch vom ErzĂ€hler vordem âvergesseneâ, seit ihrer Wie-
derbegegnung mit Ulrich aber zu neuem Leben âerwachteâ Schwester durch
Hagauers Abschiedskuss nach dem BegrÀbnis des Vaters mit einem Schlag
âvernichtetâ : ââWie hat es geschehen können,â fragte sie sich bestĂŒrzt âdaĂ ich
so lange an der Seite dieses Mannes ausgeharrt habe ? Aber habe ich denn
nicht mein ganzes Leben widerstandslos hingenommen ? !â Sie warf sich lei-
denschaftlich vor : âWenn ich auch nur ein wenig wert wĂ€re, hĂ€tte es niemals
mit mir so weit kommen können !ââ (MoE 732) Die gewandelte Einstellung
Agathes bildet nun konzeptionell die Basis, von der die Geschwisterhandlung
des Zweiten Buchs ihren Ausgang nehmen kann : jene vom ErzÀhler prolep-
tisch angekĂŒndigte und von Musil nur fragmentarisch ausgefĂŒhrte, unten noch
genauer diskutierte âReise an den Rand des Möglichenâ (MoE 761).
Als Fazit der Ăberlegungen zu Agathe kann nur wiederholt werden, dass
sie im Vergleich zu Ulrich eine komplementĂ€re Form von âEigenschaftslosig-
keitâ verkörpert, die weniger intellektuell als vielmehr emotional geprĂ€gt er-
scheint. Dies mag auf den ersten Blick bloĂ dem typischen Geschlechterkli-
schee entsprechen, erweist sich im Rahmen der erzÀhlerisch konstruierten
sozialen Welt des Mann ohne Eigenschaften indes als Resultat einer spezifisch
weiblichen Sozialisation um 1900, die strukturell eher die Herausbildung des
emotionalen als des intellektuellen Vermögens begĂŒnstigte. WĂ€hrend Ul-
rich also â wie gezeigt wurde â aufgrund seiner reflexiven Fertigkeiten in der
Lage ist, den detachierten romantischen Negativismus Ă la Nietzsche â dem
seine Schwester noch in mancher Hinsicht entspricht â durch eine offene und
schonungslose Analyse der modernen Welt und ihrer ZwĂ€nge zu ĂŒberwin-
den, vermag die emotional begabtere Agathe den blinden Fleck ihres Bruders,
nĂ€mlich die Absolutsetzung seines âmĂ€nnlichâ-intellektualistischen Spielsinns,
zu objektivieren (bzw. zu dessen Objektivierung im Prozess der LektĂŒre bei-
zutragen). Romankonzeptionell entsteht aus dieser chiastischen Struktur eine
charakteristische Oszillation, der zufolge die beiden Protagonisten sich kom-
plementÀr ergÀnzen, indem die Schwester diejenige Qualifikation zu einer
möglichst umfassenden Objektivierung der erzÀhlten Zeit und Gesellschaft
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208