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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 779
standenen Implikationen seines eigenen, gemeinhin als âmĂ€nnlichâ konno-
tierten âscholastischen Blicksâ vor Augen.34 âDiese aus dem tiefsten Innersten
kommende Investition, die sich vor allem als Haltung Ă€uĂert, verwirklicht sich
in körperlichen Posen, Stellungen oder Gesten, die alle in Richtung Recht-
schaffenheit, Geradheit, Aufrichtung des Körpers oder seiner symbolischen
Substitute, den Steinmalen, der Statue, weisen.â35 Es ist wohl diese PrĂ€tention
von âRechtschaffenheit, Geradheit, Aufrichtungâ an Dr. Strastil, die Ulrich
so gegen den Strich geht, weil sie ihm als illusionslosem Kenner des Wis-
senschaftsbetriebs unglaubwĂŒrdig erscheint und zudem als lebensfremd und
fachidiotisch : âSie war nicht imstande, ihn zu verstehen ; ihre groĂe Denk-
erfahrung in reinen Begriffen nĂŒtzte ihr nicht das geringste, sie konnte die
Vorstellungen, mit denen er bloĂ behende um sich zu werfen schien, weder
auseinanderhalten, noch zusammenbekommen ; sie vermutete, daĂ er rede,
ohne zu denken.â (MoE 866) Die Strastilâsche UnfĂ€higkeit, zu anderem als
zu ihrem Spezialgebiet etwas Kluges zu sagen â und mithin von der episteme
der eigenen wissenschaftlichen Disziplin zu abstrahieren36 â, zeigt sich etwa
in ihrem fĂŒr Ulrich trotz aller Vorsicht peinlich misslingenden Versuch, auch
ĂŒber Literatur mitzureden :
pörte sich ehrlich. Sie könne die ganzen drei Tage auf der Alm liegen, ohne sich zu rĂŒhren : wie
ein Felsblock ! [âŠ] / âHöchstens weil Sie Wissenschaftlerin sind !â warf Ulrich ein. âEin Bauer
wĂŒrde sich langweilen !â / Das sah Dr. Strastil nicht ein. Sie sprach von den Tausenden, die an
jedem Feiertag zu FuĂ, zu Rad, zu Schiff die Natur suchten. / Ulrich sprach von der Landflucht
der Bauern, die es nach der Stadt ziehe. / FrÀulein Strastil bezweifelte, daà er elementar genug
fĂŒhle. / Ulrich behauptete, elementar sei neben Essen und Liebe die Bequemlichkeit, aber nicht
das Aufsuchen einer Alm. Das natĂŒrliche Empfinden, das dazu angeblich treibe, sei vielmehr ein
moderner Rousseauismus, ein verwickeltes und sentimentales Verhalten.â (MoE 866)
34 Vgl. Bourdieu : Meditationen, S. 34 f.: âDie kollektive und individuelle Eroberung des souverĂ€-
nen, rÀumlich wie auch zeitlich in die Ferne schweifenden Blicks, der auf Kosten der VerdrÀn-
gung kurzfristiger GelĂŒste oder des Aufschubs ihrer Befriedigung (auf dem Weg einer Enthalt-
samkeit, die ein starkes ĂberlegenheitsgefĂŒhl gegenĂŒber dem normalen Sterblichen verleiht
[âŠ]) zu planen und dementsprechend zu handeln ermöglicht, wird mit einer intellektualisti-
schen ZĂ€sur bezahlt, die in keiner Hochkultur ihresgleichen kennt : mit einem Bruch zwischen
dem als ĂŒbergeordnet wahrgenommenen Intellekt und dem fĂŒr untergeordnet gehaltenen Kör-
per ; [âŠ] zwischen all dem, was wahrhaft dem Bereich der Kultur entspringt, diesem Ort aller
Sublimierungen und Springpunkt aller Distinktionen, und dem, was dem Bereich der â weibli-
chen und volksnahen â Natur angehört.â
35 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 132.
36 Vgl. etwa Bourdieu : Meditationen, S. 66 : âDer scholastische Ethnozentrismus fĂŒhrt dazu, die
praktische Logik zu leugnen, indem er sie sei es der scholastischen Logik fiktiv und rein theore-
tisch [âŠ] assimiliert, sei es mit einer radikalen Andersartigkeit [âŠ] belegtâ. Letzteres gilt fĂŒr Dr.
Strastils AusfĂŒhrungen ĂŒber Natur und Literatur.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208