Page - 785 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 785 -
Text of the Page - 785 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 785
lialer Lebensformen aufmerksamâ gemacht, und gerade âauch in den zwan-
ziger Jahren des 20. Jahrhundertsâ â der ErzĂ€hlzeit des Musilâschen Romans
â âstand die angebliche Krise der Familie [âŠ] im Zentrum sozial- und kul-
turpolitischer Debattenâ53, die einen gesellschaftlichen Niedergang prognosti-
zierten : âEhe und Familie, jene GrundstĂŒtzen der Gesellschaft, schienen mehr
denn je in Auflösung begriffen, weil sich nun auch Frauen, die berufenen HĂŒ-
terinnen von Tradition und Sitte, die individualistische Moral der Moderne zu
eigen machten, und ihren Verpflichtungen als MĂŒtter der Nation nicht mehr
nachkĂ€men.â54 Angesichts dieser Entwicklung frönten die zumeist mĂ€nnli-
chen Kommentatoren einem regelrechten Katastrophismus, den Ute Frevert
folgendermaĂen zusammenfasst :
Ăberall erblickte man Zeichen familialen Niedergangs und ZerrĂŒttung : eine liberti-
nÀre SexualitÀt, steigernde Scheidungs- und Abtreibungsziffern, sinkende Geburten-
raten bei einem wachsenden Anteil unehelicher Geburten, zunehmende Erwerbs-
quoten verheirateter Frauen. Die Ursache dieser beunruhigenden Tendenzen fand
man im âschrankenlosen Egoismusâ der Frauen, die ihre natĂŒrliche Bestimmung ver-
rieten und nach gröĂerer persönlicher Freiheit und UnabhĂ€ngigkeit strebten.55
Der hier skizzierte Diskurs ist ĂŒbrigens nicht nur fĂŒr die Vor- und Zwischen-
kriegszeit und nicht allein fĂŒr den deutschsprachigen Raum charakteristisch,
sondern fĂŒr das gesamte west- und mitteleuropĂ€ische 20. Jahrhundert ; noch
in dessen zweiter HĂ€lfte beklagten strukturkonservative Beobachter allerorts
eine âsinkende Zahl der EheschlieĂungen, die steigende Zahl der Scheidun-
gen, die geringe Zahl der Geschiedenen, die wieder heiratenâ, sowie âden ho-
hen prozentualen Anteil der auĂerehelich geborenen Kinderâ.56 Es handelt
sich dabei um diskursive BewĂ€ltigungsversuche eines allenthalben spĂŒrba-
ren Umbruchs in der Gesellschaft, der sich auch im eherechtlich vergleichs-
weise konservativen Ăsterreich in einer stetig, wenngleich diskontinuierlich
wachsenden Scheidungsrate niederschlug.57 âTrotz starrer Rollenmuster und
53 Frevert : Frauen-Geschichte, S. 181.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Vincent : Eine Geschichte des Geheimen ?, S. 242.
57 Vgl. Hanisch : MĂ€nnlichkeiten, S. 167 f.: âTatsĂ€chlich stieg die Zahl der Scheidungen im Ge-
biet des heutigen Ăsterreich deutlich an, von 491 (1890) auf 1.785 (1913). Wenig ĂŒberraschend
gab es die meisten gerichtlichen Scheidungen in Wien, 305 im Jahre 1891, 850 im Jahre 1910.
Die hÀufigsten Scheidungen (ohne Recht auf Wiederverheiratung) finden sich bei Katholiken,
die meisten Trennungen (mit dem Recht auf eine neue Heirat) bei den Juden. [âŠ] WĂ€hrend
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208