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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 795
Desillusionierung.81 Selbst bei der traditionell als typisch âweiblicheâ Aufgabe
erachteten âOrganisation der Mahlzeitenâ, die idealiter auch der familiĂ€ren
âIntegrationâ dienen soll82, erscheint Clarisse solcherart nicht nur ihrem Gat-
ten, sondern ebenso den aufmerksamen Lesern und Leserinnen als desinteg-
rativ und âmĂ€nnlichâ codiert.
Wie bereits deutlich geworden sein dĂŒrfte, spielen eine gewisse zeittypische
AusprĂ€gung der Nietzsche-Adaptation fĂŒr die Gestaltung der Walter-und-
Clarisse-Handlung eine bestimmende Rolle (vgl. auch MoE 606 f.). Stefan
Howald zufolge âist die Auseinandersetzung zwischen Clarisse und Walter
situiert als fiktive Umsetzung des Falls âNietzsche contra Wagnerâ, der aller-
dings zugleich ein Fall âspĂ€ter contra frĂŒher Nietzscheâ istâ83. Es ist hinlĂ€ng-
lich bekannt und braucht hier deshalb nicht eigens ausgefĂŒhrt werden, wie
Nietzsche sich von einem glĂŒhenden Verehrer Wagners zu dessen radikalstem
Gegner entwickelt hat und seine eigene Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik spÀter einer scharfen Selbstkritik unterzog. Gerade
dieser Zusammenhang kann allerdings fĂŒr die gendertheoretische Deutung
des Àsthetisch-ideologischen Konflikts fruchtbar gemacht werden. Einige Bei-
spiele mögen Musils erzÀhlerische Inszenierung und Instrumentalisierung des
Falls âNietzsche contra Wagnerâ bzw. âspĂ€ter contra frĂŒher Nietzscheâ mittels
sexueller Aufladung illustrieren. Abgesehen von den bereits identifizierten
erzÀhlerischen Paraphrasen aus Nietzsches Geburt der Tragödie, die der Cha-
rakterisierung von Walters und Clarisses gemeinsamem Klavierspiel dienen,
lassen sich nĂ€mlich insbesondere Clarisses kritische ĂuĂerungen zu und ĂŒber
Walter auf Urteile des spÀten Nietzsche beziehen.
So berichtet der ErzĂ€hler : âUlrich wuĂte, daĂ sie sich Walter wochen-
lang verweigerte, wenn er Wagner spielte. Trotzdem spielte er Wagner ; mit
schlechtem Gewissen ; wie ein Knabenlaster.â (MoE 49) Der Wagner-Leiden-
schaft Walters wird hier ein masturbatorischer Charakter zugeschrieben84,
wozu maĂgebliche Implikationen des noch im 19. Jahrhundert gepflegten
Onaniediskurses aktiviert erscheinen â etwa die Behauptung eines durch die
Masturbation angeblich ausgelösten RĂŒckenmarkschwundes : âClarisse sagte :
âSich etwas SchĂ€dliches verbieten können, ist die Probe der Lebenskraft ! Den
Erschöpften lockt das SchĂ€dliche !ââ (MoE 49) Sie paraphrasiert damit eine
81 Vgl. Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 127.
82 Ebd., S. 168.
83 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 234, beruft sich dabei auf MĂŒller :
Ideologiekritik und Metasprache, S. 28â31 ; Kaiser : Proust, Musil, Joyce, S. 114â121, bes. S. 116 ;
vgl. auch Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 246.
84 Vgl. dazu ebd., S. 245 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208