Page - 804 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 804 -
Text of the Page - 804 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld804
etwas eingeschĂŒchtert und befremdet, sich ihr nĂ€herte, um sie danach zu fragen, fiel
sie ihm in unbegrĂŒndeter Heiterkeit plötzlich um den Hals und drĂŒckte ein auĂeror-
dentlich heiĂes Lippenpaar auf seine Stirn, das ihn an die Brennschere des Friseurs
erinnerte, wenn sie beim BartkrÀuseln zu nahe an die Haut kommt. Sie war unange-
nehm, solche unerwartete ZĂ€rtlichkeit, und er wischte sie heimlich wieder fort, wenn
Diotima nicht hinsah. Wollte aber einmal er sie in seine Arme schlieĂen, oder hatte
er sie geschlossen, was noch Àrgerlicher war, so warf sie ihm erregt vor, daà er sie nie
geliebt habe, sondern nur wie ein Tier ĂŒber sie herfalle. (MoE 333)
Wie diese Schilderung deutlich macht, wird der eheliche Frieden im Hause
Tuzzi durch die besagten Entwicklungen empfindlich gestört. Diotima sieht
sich durch ihre unerwartet heftige Leidenschaft fĂŒr Arnheim auf einmal in der
Lage, ihre unbefriedigende Beziehung zu ihrem Gemahl als solche wahrzu-
nehmen und zu erkennen, was ihr bisher immer gefehlt hat. Ihr Gatte hinge-
gen sucht die ihn emotional ĂŒberfordernde neue Situation bloĂ mit altbewĂ€hr-
ten ErklÀrungsmustern zu bemÀnteln :
Nun gehörte ja ein gewisses Maà von Empfindlichkeit und Launen ganz zu dem
Bilde, das er sich seit seiner Jugend von einer begehrenswerten, das Wesen des
Mannes ergÀnzenden Frau gemacht hatte, und die durchgeistigte Anmut, mit der
Diotima eine Tasse Tee reichte, ein neues Buch in die Hand nahm oder ĂŒber irgend
eine Frage urteilte, von der sie nach der Ăberzeugung ihres Gatten unmöglich et-
was verstehen konnte, hatte ihn immer durch ihre vollendete Form entzĂŒckt. Das
wirkte auf ihn wie eine unaufdringliche Tafelmusik, etwas, das er ungemein liebte
[âŠ]. (MoE 333)
Aus der zuletzt zitierten Konzession, mit der Tuzzi aus konventionell âmĂ€nnli-
cherâ Perspektive die ihn insgeheim Ă€ngstigende Entwicklung seiner Frau vor
dem eigenen geistigen Auge als harmlos erscheinen lassen will, kann er indes
keine dauerhafte Beruhigung seiner Irritation beziehen :
[E]s entging ihm nicht, daĂ Diotimas Unterkleidung Fortschritte zu einem gewissen
mondĂ€nen Leichtsinn gemacht hatte. Sie hatte sich ja immer mit Sorgfalt und Ăber-
legung angezogen, da ihre gesellschaftliche Stellung sowohl erforderte, daĂ sie ele-
gant sei, wie daĂ sie den groĂen Damen keine Konkurrenz mache ; aber bei den zwi-
schen ehrbarer UnzerreiĂbarkeit und dem Spinnengewebe der LĂŒsternheit liegenden
Abstufungen der WÀsche machte sie jetzt ZugestÀndnisse an die Schönheit, die sie
vordem als unwĂŒrdig einer intelligenten Frau bezeichnet haben wĂŒrde. Bemerkte es
jedoch Giovanni [âŠ], so errötete sie bis an die Schultern und erzĂ€hlte etwas von der
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208