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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld818
der österreichischen Frauenbewegung â allen voran Adelheid Popp und Rosa
Mayreder â nachzeichnet.134 Das öffentliche Auftreten und publizistische Wir-
ken von Frauenrechtlerinnen kann in seiner lÀngerfristigen historischen Be-
deutung fĂŒr die Entwicklung des VerhĂ€ltnisses zwischen den Geschlechtern
nicht ĂŒberschĂ€tzt werden :
Vor allem aufgrund der immensen kritischen Arbeit der feministischen Bewegung,
der es zumindest in einigen Regionen des sozialen Raumes gelungen ist, den Kreis
der generalisierten VerstĂ€rkung [des âmĂ€nnlichenâ Machtanspruchs, N. C. W.] zu
durchbrechen, erscheint sie [die mÀnnliche Herrschaft, N. C. W.] nunmehr bei vielen
Gelegenheiten als etwas, das man verteidigen oder rechtfertigen muĂ, etwas, fĂŒr das
man sich verteidigen oder rechtfertigen muĂ.135
Die mÀnnlichen Reaktionen auf diesen neuen Rechtfertigungszwang wie auch
auf die ungewohnte professionelle Konkurrenz legen ein strukturelles Mo-
ment der (vermeintlichen) Bedrohungsabwehr an den Tag :
Die Heftigkeit bestimmter emotionaler Reaktionen auf den Eintritt von Frauen in
diesen oder jenen Beruf wird begreiflich, wenn man weiĂ, daĂ die sozialen Positionen
selbst vergeschlechtlicht und vergeschlechtlichend sind und daĂ die MĂ€nner, wenn
sie ihre Stellen gegen den Eintritt der Frauen verteidigen, ihre basale Vorstellung von
sich selbst als MĂ€nnern schĂŒtzen wollen.136
Besonders drastisch, weil zu einer skurrilen Theorie geronnen, die seinerzeit
in Wien Furore machte, Ă€uĂerte sich die Bedrohungsabwehr in den antifemi-
nistischen Schriften Otto Weiningers, vor allem in seinem 1903 erschienenen
Hauptwerk Geschlecht und Charakter.137 Aus sozialhistorischer Perspektive ent-
scheidend ist freilich die Tatsache, dass es sich bei der ĂŒberschieĂenden Text-
produktion zum Thema âGeschlechterkampfâ um reine DiskursphĂ€nomene
handelt, wÀhrend die tatsÀchliche soziale Praxis von einem erstaunlichen Be-
harrungsvermögen der ĂŒberkommenen Strukturen gekennzeichnet war. Dies
ist unter anderem eine Konsequenz der âTrĂ€gheit der Habitus und des Rechtsâ,
die âungeachtet aller Umgestaltungen der realen Familieâ dazu tendieren, âdas
134 Vgl. Wagner : Geist und Geschlecht, bes. S. 86â89 ; dazu auch Hanisch : Der lange Schatten des
Staates, S. 260.
135 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 154.
136 Ebd., S. 166.
137 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 260. Mehr und Genaueres findet sich etwa in
Le Rider : Das Ende der Illusionen, S. 105â139.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208