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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 819
herrschende Modell der Familienstruktur und zugleich der legitimen Sexua-
litÀt, heterosexuell und reproduktionsorientiert, zu perpetuieren, an dem die
Sozialisation und damit die Vermittlung der traditionellen Teilungsprinzipien
sich stillschweigend ausrichtenâ.138 Dazu kommt noch ein weiterer Faktor der
Inkorporierung : âWenn die alten Strukturen der geschlechtlichen Teilung im-
mer noch Richtung und Form der VerĂ€nderungen zu bestimmen scheinenâ, so
unter anderem âdeshalb, weil sie in mehr oder minder stark vergeschlechtlich-
ten Karrieren und Stellen objektiviert sindâ.139 Eine nicht unerhebliche Rolle
spielt dabei auch die Bekleidung : âWĂ€hrend bei den MĂ€nnern Kosmetik und
Kleidung den Körper hinter sozialen Zeichen der sozialen Position (Ehrenzei-
chen, Uniform usf.) zurĂŒcktreten lassen sollen, tendieren sie bei den Frauen
dazu, ihn zu verherrlichen und zur Sprache der VerfĂŒhrung zu machen.â140
Dies gilt fĂŒr die Zeit um 1900 noch in ganz besonderer Weise, wie Musils Er-
zÀhler berichtet :
Damals trugen die Frauen Kleider, die vom Hals bis zu den Knöcheln geschlossen
waren, und den MÀnnern, obgleich sie noch heute Àhnliche Kleider tragen wie da-
mals, waren sie zu jener Zeit angemessener, denn sie stellten noch in lebendigem Zu-
sammenhang die tadellose Geschlossenheit und strenge ZurĂŒckhaltung nach auĂen
dar, die als Zeichen des Mannes von Welt galt. (MoE 279 ; vgl. GW 8, 1193 f.)
Die weibliche Bekleidung des frĂŒhen zwanzigsten Jahrhunderts erfĂŒllt dem-
nach die Funktion, die in ihr steckenden âMenschenâ zusĂ€tzlich zu ihrer ei-
genen âHautâ mit zahlreichen weiteren, kĂŒnstlichen âHĂ€ute[n]â auszustatten :
Mit dem groĂen Kleid, seinen RĂŒschen, Puffen, Glocken, GlockenfĂ€llen, Spitzen und
Raffungen hatten sie sich eine OberflĂ€che geschaffen, die fĂŒnfmal so groĂ war wie
die ursprĂŒngliche und einen faltenreichen, schwer zugĂ€nglichen, mit erotischer Span-
nung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiĂe Tier verbarg,
das sich suchen lieĂ und fĂŒrchterlich begehrenswert machte. (MoE 279)
Dementsprechend berichtet auch Stefan Zweig ĂŒber die Frauenmode der
Jahrhundertwende, man habe damals âverzweifelt jede Spur nackter Haut und
ehrlichen Wuchses verdeckenâ wollen, um der âSittlichkeitâ zu genĂŒgen, da-
mit aber tatsĂ€chlich das âGegenteilâ bewirkt, indem man âbis zur Peinlichkeit
138 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 155.
139 Ebd., S. 163.
140 Ebd., S. 172.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208