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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld838
die bevorrechtete Empörung des beleidigten MitgefĂŒhls es selten bemerken lĂ€Ăt, so
gehören doch auch zur Grausamkeit, wie zur Liebe, zwei, die zueinander passen !
(GW 8, 1274)
Der grausame âmĂ€nnlicheâ Sadismus bedarf demnach auch eines komple-
mentĂ€ren âweiblichenâ Masochismus, damit er als mikrosoziale Praxis funk-
tionieren kann. Musil verweist in diesem Zusammenhang ausdrĂŒcklich auch
auf die zeithistorische Brisanz seiner Beobachtungen, wenn er mit Blick auf
die eigene Gegenwart der dreiĂiger Jahre hervorhebt, kaum eine Epoche der
âMenschheitâ sei âvon ihrer âfeigen Grausamkeit gegen SchwĂ€chereâ (und so
lautet doch wohl auch die gebrÀuchlichste Begriffsumschreibung des Sadis-
mus) so geplagtâ gewesen âwie die gegenwĂ€rtigeâ (GW 8, 1274). Im âintel-
lektuellen Romanâ muss es also darum gehen, solche PhĂ€nomene nicht zu
beschönigen, sondern sie gerade auszustellen und damit einer kritischen Re-
flexion zugÀnglich zu machen. Dass es Musil keineswegs darum zu tun ist,
Ulrichs manifesten Sadismus genĂŒsslich zu affirmieren183, wie verschiedent-
lich nahegelegt wurde184, zeigt der weitere Verlauf seines Vortrags Ăber die
Dummheit, in dem er eine Dame skizziert, âdie uns durchaus den Roman ihres
Lebens anvertrauen möchte und deren Seele sich anscheinend immer in inte-
ressanten UmstÀnden befunden hat, ohne daà es zu einem Erfolg gekommen
wĂ€re, den sie vielmehr erst von uns erwartetâ (GW 8, 1277), kurz : die auf den
ersten Blick âdummâ erscheint (und in mancher Hinsicht an Bonadea â sowie
an Diotima â erinnert). Musils Argumentation lĂ€uft aber darauf hinaus, âdaĂ
sie es nicht durchaus und immer istâ. Zwar rĂ€umt er ein : âSie spricht viel von
sich, und sie spricht ĂŒberhaupt viel. Sie urteilt sehr bestimmt und ĂŒber alles.
Sie ist eitel und unbescheiden. Sie belehrt uns oft. Sie ist gewöhnlich mit ih-
rem Liebesleben nicht in Ordnung, und ĂŒberhaupt glĂŒckt ihr das Leben nicht
so recht.â In der Folge gibt er jedoch zu bedenken :
183 Vgl. schon die gedrĂ€ngte Analyse im âVorabdruckâ Die beiden Geliebten (Bild aus einem Roman),
der am 9. Mai 1923 in der Prager Presse erschienen ist : âMan kann sich denken, was Anders, der
in solchen Fragen die Grausamkeit zumindest der Jugend besaĂ, aus ihr machte, sobald er sie
in die Hand bekam ; er lieà sie wie die Teufelchen in der Flasche ohne Rast die Höhe zwischen
Tugend und Verdammnis auf- und absteigen. Er verfĂŒhrte sie sogar zu GesprĂ€chen ĂŒber die
Tugenden und die Seele, nur um mitten darin sie unter seinen Willen und böse Lust zu beugen,
und sie machte ihm viel VorwĂŒrfe.â (MoE 2022) Auch noch in den Notizen zur Korrektur der
Reinschrift von 1930 heiĂt es einschlĂ€gig zum Thema des Kapitels I/7 : âDas Böse, das InkohĂ€-
rente, Ansatz von Ulrichs Moralâ (M I/2/1).
184 Vgl. etwa KĂŒmmel : Das MoE-Programm, S. 430â436. Mehr dazu unten im Abschnitt ĂŒber
Ulrich und Gerda.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208