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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld852
der UnterkĂŒhlung einschlĂ€gig scheint, ist es bei der aktiven VerfĂŒhrung ebenso
vordergrĂŒndig die der Ăberhitzung. Nur die ErzĂ€hlstimme lĂ€sst sich davon
nicht anstecken, sondern verharrt abwartend in der bereits erwÀhnten, irritie-
rend kĂŒhlen Distanz. In den folgenden Ăberlegungen werden zunĂ€chst einmal
die nĂŒchternen Fakten des Geschehens und seiner Darstellung rekapituliert,
daraufhin die erzÀhlerische Suggestion des klinischen Blicks observiert und
zuletzt die mediengeschichtlichen Implikationen der unempfindsamen Er-
zĂ€hlweise gemustert. Einige abschlieĂende Bemerkungen sollen die dabei
gewonnenen Ergebnisse schlieĂlich romanstrukturell, Ă€sthetisch und literatur-
politisch profilieren.
Der Plot des Kapitels wartet von Beginn an mit klassischen Topoi einer
VerfĂŒhrungsszene auf : So hat Gerda beim Eintritt in Ulrichs Haus âeinen
Schleier vorgebunden, wie ihn Bonadea bei ihren Besuchen zu tragen pflegteâ
(MoE 617 f.; vgl. MoE 30). Die Funktion eines solchen KleidungsstĂŒcks, das
in heutigen westlichen Gesellschaften ganz andere Konnotationen auslöst, be-
steht hier im Einklang mit der zeitgenössischen literarischen Topik220 haupt-
sÀchlich in der Stimulierung der sexuellen Phantasie des Mannes. Sehr schnell
wird allerdings klar, dass Ulrichs mÀnnliches Begehren in der folgenden Szene
nicht wirklich geweckt wird, zumindest nicht in ungebrochener Form. Die
angeblich dargestellte VerfĂŒhrung erscheint im Gegenteil sogar mehrfach
gebrochen, was bereits durch die Schilderung von Gerdas anfÀnglichem Zu-
stand unĂŒbersehbar ist : âSie zitterte am ganzen Leibe und suchte das durch
eine kĂŒnstlich unbefangene Haltung zu verbergen, die nĂ€rrisch steif wirkte.â
(MoE 618) Es handelt sich hier ganz offensichtlich nicht um jene psychische
Disposition, die von einer gelingenden VerfĂŒhrung vorausgesetzt wird. Der
mĂ€nnliche VerfĂŒhrer freilich lĂ€sst sich der Tradition entsprechend von solchen
ImponderabilitĂ€ten nicht beirren : âAber Ulrich verfuhr kurz, indem er den
Arm um ihre Schulter legte und sie kĂŒĂte. Gerda gab nach wie eine weiche
Kerze.â An dieser Stelle könnte man annehmen, die anfĂ€nglichen Irritationen
seien nun ausgerĂ€umt. In der Folge ĂŒberkommt den etwas desolaten Don
Juan221 denn auch die topische âGrausamkeit des VerfĂŒhrersâ, âder sich unwi-
220 Vgl. etwa den Dialog âDer junge Herr und die junge Frauâ in Schnitzler : Reigen, S. 337 f., der
damit beginnt, dass die verheiratete âjunge Frauâ âdicht verschleiertâ in die vom âjungen Herrnâ
eigens zu Liebeszwecken angemietete Wohnung tritt. In der Folge ist wiederholt von den
âzweiâ ( !) Schleiern der Frau die Rede, die zunĂ€chst auch in den privaten RĂ€umen nicht abge-
legt werden und höchste erotische Spannung zwischen den Geschlechtern bewirken.
221 Nach Hartwig : Poetik der Ăbereinstimmung, S. 108, verspĂŒrt Ulrich âdas Unbehagen desjeni-
gen, der den Erfolg seiner VerfĂŒhrungskĂŒnste nicht mag â eine dem Don-Juanismus gĂ€nzlich
fremde Befremdung, und doch eine rechte Eitelkeitâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208