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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld858
ungewohnter Nacktheit neben sich spĂŒrte und von seinen HĂ€nden berĂŒhrt wurde,
schleuderte ihr Körper allen ihren Willen von sich. Irgendwo tief in ihrer Brust fĂŒhlte
sie noch immer unsagbare Freundschaft, einen zitternd zarten Wunsch, Ulrich zu um-
armen, sein Haar zu kĂŒssen, seiner Stimme mit ihren Lippen zu folgen, und hatte die
Vorstellung, wenn sie sein wahres Wesen berĂŒhre, werde sie daran zergehen wie ein
wenig Schnee in einer warmen Hand ; aber das war ein Ulrich, der, wie gewöhnlich
gekleidet, sich in den bekannten RĂ€umen ihres Elternhauses bewegte, und nicht die-
ser nackte Mann, dessen Feindseligkeit sie erriet und der ihr Opfer nicht ernst nahm,
obgleich er ihr keine Besinnung lieĂ. (MoE 622)
Gerdas Wahrnehmung der âFeindseligkeitâ Ulrichs wird vom ErzĂ€hler durch-
aus bestÀtigt. Doch statt sich damit aufzuhalten, lÀsst er die Handlung nun in
ihren Höhepunkt mĂŒnden, in einen historisch signifikanten Angstschrei232, der
mit einem plötzlichen Kontrollverlust der jungen Frau einhergeht und ihr eine
komplette Persönlichkeitsspaltung beschert. â[A]uf einmal bemerkte Gerda,
daà sie schrie. Wie ein Wölkchen, wie eine Seifenblase hing ein Schrei in der
Luft, und andere folgten ihm. Es waren kleine Schreie, aus der Brust gestoĂen,
als ringe sie mit etwas, ein Wimmern, aus dem sich helle I-Laute rundeten
und lösten.â (MoE 622) Die eigene erstaunte Selbstwahrnehmung zeigt, dass
Gerda ihren Körper und dessen Aktionen nicht mehr unter Kontrolle hat.
Diese VerselbstĂ€ndigung des Leibes gegenĂŒber den Befehlen des Bewusstseins
entspricht den damaligen Vorstellungen von einem hysterischen Anfall233, wie
im Folgenden gezeigt werden soll.
Martin von Koppenfels hat den klinischen Blick im Medium des Romans
wie folgt beschrieben :
Was sieht der Ă€rztliche Blick ? Er sieht das Leben ; aber ein bloĂes Leben, das aus der
biographischen Zeit herausgefallen ist, ein Leben, dem die Anamnese die Vergangen-
heit, die Diagnose die Gegenwart und die Prognose die Zukunft ersetzt. Dieser Blick
schaut durch das Ich hindurch auf dessen Körperkern ; daher seine enthĂŒllende, be-
schÀmende Wirkung. Der Àrztliche Blick des Romanciers sieht die Geschichte, nicht
zuletzt die GefĂŒhlsgeschichte der Figur, wie ein Aggregat von Lebensprozessen. Er
sieht die Seele als Fleisch.234
232 Vgl. Corbin : Schreie und FlĂŒstern, S. 592 : â[D]er Angstschrei, den die hysterische Frau [âŠ]
ausstieĂ, verriet mehr ĂŒber das privateste Leid der Menschen im 19. Jahrhundert als irgend
etwas sonst.â
233 Zum kulturhistorischen Kontext vgl. Schuller : âWeibliche Neuroseâ und âkranke Kulturâ. Zur
Art und Wirkung der âSchreieâ als âHöhepunkte des Schauspielsâ hysterischer AnfĂ€lle vgl.
Didi-Huberman : Erfindung der Hysterie, S. 287 f.
234 Koppenfels : Immune ErzÀhler, S. 187.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208