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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld860
auf ebenfalls noch zurĂŒckzukommen sein wird. Die VerselbstĂ€ndigung ihres
unkontrollierbaren Körpers fĂŒhrt zu einer radikalen Entsubjektivierung des
Vorgangs, was sich erzÀhlerisch im Vergleich der dreiundzwanzigjÀhrigen
Frau mit einem unreifen Kind ausdrĂŒckt. In ihrem völligen Kontrollverlust
legt sie sogar die Assoziation an ein Tier nahe (wie eine erboste Katze be-
droht sie etwa Ulrich instinkthaft âmit den NĂ€gelnâ236). Das Versagen ihres
bewussten Willens wird indezent, ja schonungslos offengelegt. Die charak-
teristische Kombination einer höchst detaillierten Beschreibung körperlicher
und psychischer Daten mit deren beispielloser reflexiver Durchdringung, die
sich ihrerseits eines reichen Reservoirs an in diesem Kontext unkonventionel-
len Vergleichen und Bildern bedient, erzeugt erzÀhlerisch den Anschein von
klinischer KÀlte der Darstellung. Musils genaue Zeichnung der wÀhrend des
Anfalls zu beobachtenden pathologischen ZustÀnde und AblÀufe erfolgt mit
einer in der deutschsprachigen Literatur vordem ungekannten Explizitheit :
âUlrich starrte voll Grauen in die kleinen Pupillen der verschleierten Augen,
aus denen der Blick merkwĂŒrdig steif hervorkam, und betrachtete entgeistert
die seltsamen Bewegungen, in denen sich Wunsch und Verbot, Seele und See-
lenlosigkeit in einer unausdrĂŒckbaren Weise verschrĂ€nkten.â (MoE 623)
Wie diese Einzelheiten zeigen, vollfĂŒhrt Gerda in Ulrichs Bett die âChar-
cotsche âgrande hysterieââ, die zur ErzĂ€hlzeit des Romans â nicht aber zur
erzĂ€hlten Zeit â angeblich bereits eine Seltenheit darstellte.237 Es handelt sich
dabei ganz offenbar um den âHöhepunkt der Begegnung zwischen Ulrich und
Gerdaâ, wie Barbara Neymeyr feststellt, die in der auch als Klimax des Kapi-
tels fungierenden Szene âeinen gleichsam pervertierten Orgasmusâ gestaltet
236 Vgl. die im unmittelbar vorausgehenden Kapitel geschilderte Szene, in der die erste Anzeichen
des Wahnsinns aufweisende Clarisse âdie NĂ€gel ihrer zehn Finger wie ein Vogel gegen sein
[Walters] Gesichtâ spreizt (MoE 614) ; dazu den Hinweis von Neymeyr : Psychologie als Kul-
turdiagnose, S. 237, Anm. 456.
237 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 1085. Eine grobe kulturhistorische Skizze findet sich in Corbin :
Schreie und FlĂŒstern, S. 588â595, ein genauerer wissenschaftsgeschichtlicher Abriss in Gödde :
Charcots neurologische Hysterietheorie. Der fortgesetzte Niedergang des Hysterie-Paradig-
mas zeichnet sich spÀter in der Auflagenfolge von Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie ab, in deren
Verlauf die einst ĂŒberprĂ€sente Krankheit durch schwindende Seitenzahl zunehmend margina-
lisiert erscheint. â Zu einem ââvollstĂ€ndigen und regelmĂ€Ăig verlaufendenâ hysterischen Anfallâ
gehören nach der von Charcot aufgestellten âfigurativen GesetzmĂ€Ăigkeitâ vier konstitutive
âPhasenâ, nĂ€mlich die âepileptoideâ Phase, die âPossen-Phaseâ der Verrenkungen und groĂen
Bewegungen, die Phase der âattitudes passionellesâ, also der leidenschaftlichen GebĂ€rden, und
schlieĂlich die Endphase âdes Deliriumsâ bzw. des groĂen hysterischen Anfalls ; zusammen-
gefasst bei Didi-Huberman : Ăsthetik und Experiment bei Charcot, S. 285, sowie bei Schuller :
Hysterie als Artefaktum, S. 86 f. In diesem genauen Sinn kann bei Gerda kaum von einem
âvollstĂ€ndigenâ Anfall gesprochen werden.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208