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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 863
demonstriert werden. Es wird also das Schauspielerische, Aufdringliche eben-
sowohl zur Krankheit wie zur Disposition gehörenâ.250 Ulrichs Reaktion auf
das merkwĂŒrdige Schauspiel erscheint völlig hilflos, lĂ€sst aber doch eine mehr
als nur flĂŒchtige Kenntnis des zeitgenössischen Hysterie-Diskurses erkennen :
Es war ihm langsam klar geworden, daĂ er einen hysterischen Anfall vor sich habe,
aber er wuĂte nicht, was er dagegen tun solle. Er fĂŒrchtete sich davor, daĂ die furcht-
bar peinigenden Schreie noch lauter werden könnten. Er erinnerte sich, daà ein hef-
tiges AnbrĂŒllen imstande sein solle, einen solchen Anfall zu brechen, vielleicht auch
ein plötzlicher Schlag. (MoE 623)
Mit solchen aus der Not geborenen, vorderhand brutal und unmenschlich
wirkenden Ăberlegungen folgt Ulrich dem damaligen psychopathologischen
Kenntnisstand.251 So sieht Kretschmer âin den hypobulischen ĂuĂerungen der
Hysterischen und Katatonischen die Willensfunktion auf dasselbe elementare
Kontrastpaar reduziertâ,
das dem Willensausdruck der Kinder und der höheren Tiere so hÀufig das GeprÀge
gibt. Nicht ruhiges Verhandeln, Ăberlegen, Ausgleichen der Motive auf eine mitt-
lere Linie â sondern ganz ungedĂ€mpfte, abrupte AusschlĂ€ge grob alternativer Art :
entweder sklavisches Ja oder blindes Nein. Diese hypobulischen WillensausschlÀge
sind ferner ĂŒbermĂ€Ăig stark und zĂ€h in ihrem motorischen Ausdruck. Sie sind nicht
durch klare Motive, sondern durch starke, dumpfe, allgemeine GefĂŒhlstendenzen be-
herrscht und lassen sich deshalb auch viel weniger durch vernĂŒnftiges Zusprechen als
durch elementarere physiologische Reizwirkungen, durch Schmerz, Pfiff, Kommando
und dergl. beeinflussen.252
Dementsprechend beschreibt der Psychologe die etwa bei Kindern zu beob-
achtende âArt spastischer Willenseinstellungâ wie folgt :
Sie beginnen plötzlich aufs heftigste zu widerstreben, mit Aufwand all ihrer Muskeln
und ihres Stimmapparates sich eigensinnig zu sperren, und sie halten diese Einstel-
lung dann mit groĂer ZĂ€higkeit lange fest, wenn die Ursache schon verschwunden ist
250 Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie (2. Auflage), S. 404.
251 Auch Musils ErzĂ€hler erwĂ€hnt an anderer Stelle des Romans âdie Erfahrungen, die man mit
Besessenen gemacht hat, denen es zuweilen gut bekommen sein soll, wenn man sie rĂŒcksichts-
los anschrie oder rĂŒttelteâ (MoE 812).
252 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 101.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208