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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld870
nehmenden jungen Frau in Gegenwart des gröĂeren Mannes, wĂ€hrend ihr
angelaufenes und fleckiges Antlitz ihren völligen Kontrollverlust und ihr Aus-
geliefertsein signalisiert.
Es ist freilich nicht allein die sexistisch-voyeuristische Komponente, die den
weiblichen Spiegelblick hier so unertrÀglich erscheinen lÀsst. Auf einer viel
allgemeineren und abstrakteren Ebene fĂŒhrt dazu auch das von Musil diag-
nostizierte generell anthropologische BedĂŒrfnis des fragil gewordenen Sub-
jekts nach steter Selbstvergewisserung, die bevorzugt ĂŒber spiegelbildliche
EindrĂŒcke erfolgt â womit er in gewisser Weise auf Lacans âLehreâ vom âdra-
matischen Spiegelstadiumâ272 vorausdeutet. In seiner âunfreundlichen Betrach-
tungâ TriĂ«dere (1926/35) aus dem NachlaĂ zu Lebzeiten kommt er genau darauf
zu sprechen : â[W]elches GlĂŒck grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn
wir AnschluĂ haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern !
Warum das alles ? Vielleicht befĂŒrchten wir mit Recht, daĂ unser Charakter
wie ein Pulver auseinanderfallen könnte, wenn wir ihn nicht in eine öffent-
lich zugelassene TĂŒte stecken.â (GW 7, 521) Damit ist das fĂŒr den groĂen
Roman zentrale Problem der menschlichen Eigenschafts- oder Gestaltlosig-
keit angesprochen, das durch den Spiegelblick gebannt werden soll, aber eben
nicht dauerhaft gebannt werden kann â insbesondere nicht von der verzwei-
felten Gerda. Das Spiegelbild fungiert nach Lacan ja ĂŒberdies als Chiffre fĂŒr
das Ideal-Ich, das nie erreichbar ist.273 Es kann daher eine selbstzerstöreri-
sche Wirkung entfalten, denn es ist zugleich âman selbstâ und doch nicht âman
selbstâ. Die Unerreichbarkeit des imaginĂ€ren Ideals angesichts der LabilitĂ€t
des eigenen Körpers erinnert permanent an den drohenden Zerfall des Sub-
jekts. Eine solche Erfahrung kann in AggressivitĂ€t mĂŒnden, indem man sich
dadurch Abhilfe zu verschaffen sucht, dass man den Zerfall an ein GegenĂŒber
delegiert, um ihn nicht selber zu erleben â was in Musils Roman an Ulrich ex-
272 Vgl. Lacan : Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 67 : â[D]as Spiegelstadium ist
ein Drama, dessen innere Spannung [âŠ] fĂŒr das an der lockenden TĂ€uschung der rĂ€umlichen
Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zer-
stĂŒckelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopĂ€dische
nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften IdentitÀt,
deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. [âŠ]
Dieser zerstĂŒckelte Körper [âŠ] zeigt sich regelmĂ€Ăig in den TrĂ€umen, wenn die fortschrei-
tende Analyse auf eine bestimmte Ebene aggressiver Desintegration des Individuums stöĂt.â Es
handle sich um eine Form, die offenbar werde âin Spaltungs- und Krampfsymptomen, in hys-
terischen Symptomenâ. Genaueres und Erhellendes zum âBegehren des Individuums, Besitzer
und Bewohner eines sicheren körperlichen âIchâ zu seinâ, sowie zur etwas verklausulierenden
Darstellung Lacans findet sich bei Bowie : Lacan, S. 30â32.
273 Vgl. ebd., S. 30.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208