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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld896
der ErzÀhler des Mann ohne Eigenschaften ebenso sozialpsychologisch auf
die Erfahrungsarmut damaliger zwanzigjĂ€hriger Offiziere zurĂŒck wie Ul-
richs seltsames Verlangen, die gesellschaftlich geÀchtete Konkretion in eine
ungefĂ€hrliche Abstraktion zu ĂŒberfĂŒhren, mithin âeine literarische Sprache
der Liebe zu erfindenâ336. Der unerfahrene junge Mann, der âsich âdie Frauââ
schlechterdings als âschönâ, mit âdĂŒnne[r] Taille, winzig kleine[n] HĂ€nde[n]
und FĂŒĂe[n] und sehr lange[m] Haarâ ausgestattet imaginiert, âteils stolz, teils
sanft, teils heiter, teils schwermĂŒtigâ, aber jeweils âĂŒberaus weiblich und am
Ende der Geschichte so sĂŒĂ und weich wie BratĂ€pfelâ (GW 8, 1194), gibt sei-
nem noch ungewohnten SublimationsbedĂŒrfnis deshalb sofort nach :
Ulrich wurde liebeskrank. Und da echte Liebeskrankheit kein Verlangen nach Besitz
ist, sondern ein sanftes Sichentschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Be-
sitz der Geliebten verzichtet, erklÀrte der Leutnant der Frau Major die Welt auf eine
so ungewohnte und ausdauernde Weise, wie sie es noch nicht gehört hatte. Gestirne,
Bakterien, Balzac und Nietzsche wirbelten in einem Trichter von Gedanken, dessen
Spitze sie mit wachsender Deutlichkeit auf gewisse, nach der damaligen Zeitmode
dem Anstand verwehrte Unterschiede gerichtet fĂŒhlte, die ihren Leib von dem Leib
des Leutnants trennten. Sie wurde verwirrt durch diese eindringliche Beziehung der
Liebe zu Fragen, die ihres DafĂŒrhaltens bis dahin noch nie mit Liebe zu tun gehabt
hatten [âŠ]. (MoE 123 f.)
WĂ€hrend schon der junge Ulrich auf eine âbesitzloseâ, also uneigennĂŒtzige
Form der Liebe ausgerichtet ist und diese auch durch einen möglichst unkon-
ventionellen Begleitdiskurs strukturell der âreinenâ Kunst annĂ€hert, zeigt sich
das Objekt seiner Passion angesichts solch innovativer Ausdrucksweise âver-
wirrtâ und sucht Letztere in sozial gelĂ€ufige Bahnen zurĂŒckzufĂŒhren. Konse-
quent ergibt sich in der Folge eine recht konventionelle Liebesszene, die sich
in ihrer erzÀhlerischen Gestaltung an jenen topischen Vorbildern orientiert,
welche bereits von Flaubert karikiert worden sind337 ; diese werden bei Musil
aber noch radikaler persifliert, indem er die sonst ausfĂŒhrlich dargestellten
Einzelheiten des individuellen Liebeserlebnisses extrem kondensiert und typi-
siert bzw. als gleichsam serielles Element einer allgemeinen und ĂŒberindividu-
ellen Liebestopik erscheinen lÀsst :
fiel, ist nichts anderes zu schlieĂen, als daĂ ihre bis dahin gĂŒltige Idealform schon in Auflösung
war.â (GW 8, 1195)
336 So Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 269.
337 Vgl. Flaubert : Madame Bovary, S. 213â219 (2. Tl., 9. Kap.).
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208