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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 909
formationen durch Rathenaus Freunde Alfred Kerr und Franz Blei erhalten
und manches wohl auch durch die Biografie von Harry Graf Kessler erfahren.
Umgekehrt wirkt die Darstellung des VerhÀltnisses zwischen Lili Deutsch und
Walther Rathenau durch den Rathenau-Biografen Wolfgang Brenner stre-
ckenweise so, als sei sie von Musils literarischer Gestaltung der Beziehung
zwischen Arnheim und Diotima inspiriert worden â was angesichts der feh-
lenden Quellen369 gar nicht unwahrscheinlich wÀre.370 Aus literaturwissen-
schaftlicher Perspektive ist es schwer entscheidbar, ob die Biografie fĂŒr den
Roman oder nicht vielmehr dieser fĂŒr den Biografen Pate stand.371 In dis-
kursanalytischer Hinsicht erstaunlich ist jedenfalls die Tatsache, wie sehr sich
biografische und literarische ErzĂ€hlmuster gleichen : âRathenau hatte in Lili
Deutsch einen Menschen gefunden, der ihm wirklich wesensverwandt war.
Nicht, daà sie Àhnlichen ZwÀngen und Qualen unterworfen gewesen wÀre wie
er â sie war eine bodenstĂ€ndige, mit ihrem Leben nicht unbedingt unzufrie-
dene Frau. Aber sie hatte eine seltene Gabe : Sie konnte sich in einen schwieri-
gen und verschlossenen Charakter wie Walther einfĂŒhlen.â372 Entsprechendes
gilt wohl auch fĂŒr Diotima und Arnheim, wobei Musil im Unterschied zum
spÀteren Biografen die eingeschliffenen ErzÀhlmuster deutlich ironisiert und
somit kenntlich macht. Im gegenwÀrtigen Kontext kann es nicht um den Auf-
weis von Strukturanalogien zwischen faktualen und fiktionalen Texten gehen,
der in den vergangenen Jahren zur GenĂŒge erbracht worden ist. Stattdessen
ermöglicht es der Vergleich zwischen Dichtung und Biografik, die zeitanalyti-
sche Potenz des Romans aufzudecken,373 welche sich in der offenbar wegwei-
369 Die Briefe von Lili Deutsch hat Rathenaus Mutter nach dessen Tod vernichtet, jene von Rathe-
nau sind bei der Emigration von Lili durch die Versenkung ihres Passagierschiffs verlorenge-
gangen ; vgl. Brenner : Rathenau, S. 251 u. 256.
370 So heiĂt es ebd., S. 245, zur empfindsamen Korrespondenz zwischen den beiden : â[S]eit 1906
schrieben sich der Sohn des Chefs und die Frau des Vorstandsmitglieds Briefe. Briefe, die sehr
schnell innig wurden. [âŠ] Lili Deutsch spĂŒrte irgendwann, daĂ sie sich auf eine Art zu Walther
hingezogen fĂŒhlte, die nichts mehr zu tun hatte mit den ĂŒblichen harmlosen SalonaffĂ€ren. Der
Umbruch geschah in dem Moment, in dem Walther sich ihr offenbarte.â
371 Vgl. ebd., S. 246 : âDer Hausherr, traditionell zustĂ€ndig fĂŒr die auslĂ€ndischen Belange der AEG,
ist oft unterwegs. Lili Deutsch ist allein, Rathenau ist ihr ein willkommener GesprÀchspartner.
Er hat etwas, was sie bei dem gebildeten und weltlĂ€ufigen Geheimrat Deutsch vermiĂt : Er ist
unbedingt, er will mehr als nur solide GeschĂ€fte tĂ€tigen und ein kultiviertes Haus fĂŒhren. Ra-
thenau hat Ambitionen, die sie betören.â
372 Ebd.
373 OberflÀchlich betrachtet, wirken biografische SÀtze wie die folgenden geschichtlich unspezi-
fisch : âLili Deutsch hĂ€tte fĂŒr Walther alles hinter sich gelassen. Sie wĂ€re ihm gefolgt, hĂ€tte ihre
Familie aufgegeben. Das Problem war nur, daĂ Walther eben das nicht von ihr wollte. Und als
sie das verstand, war ihr Furor fĂŒrchterlich.â (Ebd.) TatsĂ€chlich aber verweisen die weibliche
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208