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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld910
senden erzĂ€hlerischen Konstruktion eines so auĂergewöhnlichen VerhĂ€ltnis-
ses zwischen den Geschlechtern verbirgt.
Angesichts der gewachsenen Anspruchshaltung âmodernerâ Frauen befin-
den sich die von den MachtverhÀltnissen nach wie vor profitierenden MÀnner
nun in der Lage, die ihnen zugestandene Macht experimentell zu erproben
und auszureizen, wie Rathenaus Biograf nahelegt : âEr wollte sehen, wie weit
er selbst zu gehen bereit war, wenn er sich ganz auf eine Frau einlieĂ. / Lili
Deutsch war Rathenaus einziger ernsthafter Versuch, ein anderes Leben zu
fĂŒhren als das, das er zu fĂŒhren gezwungen war : ein Leben an der Seite einer
liebenden und geliebten Frau.â374 Von einem wahrhaftigen Versuch seitens des
Mannes kann freilich kaum die Rede sein. âLili muĂte glauben, seine Sensibi-
litĂ€t und sein KĂŒnstlertum stĂŒnden dem noch im Wege, was sie sich ersehnte.
/ Walther haderte wie immer mit sich selbst. [âŠ] Er kann den letzten Einsatz,
an den Lili damals noch leidenschaftlich glaubte, niemals einlösen.â375 Der vor
allem an intimen Details interessierte Rathenau-Biograf spekuliert, dass âdie
naheliegende ErklĂ€rung fĂŒr seine Liebesqualenâ darin bestanden habe, âdaĂ er
sich ihr nicht hingeben konnte, weil sie eine Frau und kein Mann war.â376 Wie
dem auch sei â ein intimer Verkehr hat zwischen ihnen offenbar (wie auch in
Musils Roman) niemals stattgefunden.377 Ganz im Gegenteil : âIm April 1912
explodiert die gefĂ€hrliche Mischung. Lili ist so verzweifelt ĂŒber die unbefriedi-
gende Beziehung zu Rathenau und ĂŒber dessen stĂ€ndige AusflĂŒchte, in denen
er ihr die Folgen einer gesteigerten Liaison fĂŒr die AEG ausmalt, daĂ sie sich
einen VerbĂŒndeten sucht. Der natĂŒrliche Ansprechpartner ist [Maximilian]
Harden, beider Freund.â378 Dies konnte der betuchte Firmenerbe keineswegs
Bereitschaft, die eigene soziale Existenz einer unkonventionellen Liebe zu opfern, sowie der
Ărger ĂŒber eine fehlende entsprechende Konsequenz beim geliebten Mann auf eine verĂ€nderte
Anspruchshaltung von Frauen, die so wohl generell erst im 20. Jahrhundert zu beobachten ist,
indem dem bisher marginalisierten Geschlecht ĂŒberhaupt eine berechtigte individuelle BedĂŒrf-
nisstruktur zugestanden wird â wenngleich deren Artikulation aus dem Mund des Biografen
wie ein Auszug aus einem Herrenmagazin klingt : â[A]m Anfang war er fĂŒr Lili ein Mysterium
â und die reife Frau verfiel ihm wie ein Backfisch.â (Ebd., S. 247)
374 Ebd.
375 Ebd., S. 248.
376 Ebd., S. 249. An anderer Stelle mutmaĂt Brenner auch hinsichtlich Lili Deutschs : â[Ă]berhaupt
scheint sie die naheliegende Annahme, daà Rathenau homosexuell veranlagt sein könnte, nie
in ErwĂ€gung gezogen zu haben. Vielmehr fĂŒhrt sie seine krĂ€nkende Reserve in sexuellen Din-
gen darauf zurĂŒck, daĂ er auf die AEG habe RĂŒcksicht nehmen wollen â was natĂŒrlich in den
Augen der liebenden Frau ehrenrĂŒhriger und hasenfĂŒĂiger erschien als das Naheliegende.â
(S. 254)
377 Vgl. ebd., S. 251.
378 Ebd.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208