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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld914
emotionalen Defizite kompensieren zu können. Es ist nur konsequent, wenn
sie in der Folge auf den politisch ziemlich abwegigen Gedanken kommt, Arn-
heim als SekretĂ€r der Parallelaktion zu installieren. âDiotimas groĂe Ideeâ, die
eben âin nichts anderem bestand, als daĂ der PreuĂe Arnheim die geistige
Leitung der groĂen österreichischen Aktion ĂŒbernehmen mĂŒsse, obgleich
diese eine Eifersuchtsspitze gegen PreuĂen-Deutschland besaĂâ (MoE 110),
erfÀhrt freilich eine eindeutige Abfuhr, indem Graf Leinsdorf den absurden
Plan mit den unmissverstĂ€ndlichen Worten vereitelt, er könne âeinen PreuĂen
nicht brauchenâ, ja âauch einen ReformpreuĂen nichtâ (MoE 142). Umgekehrt
hĂ€tte sich wohl auch Arnheim fĂŒr eine derartige Funktion in der kakanischen
Parallelaktion nicht hergegeben, was deutlich macht, dass die angesproche-
nen habituellen Homologien zwischen ihm und Diotima ihre klar definierten
Grenzen haben. Was die beiden hingegen wiederum einander annÀhert, ist
der Umstand, dass es sich bei der nun einmal entfachten Leidenschaft fĂŒrein-
ander gewissermaĂen um die âerste Liebeâ handelt :
Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiĂ man es, aber auch
der groĂe Finanzmann besaĂ eine in erweitertem Sinn keusche Seele. [âŠ] So war er
durchtrieben von Lebenserfahrung, doch unberĂŒhrt und in der Gefahr des Allein-
bleibens, als ihm Diotima begegnete, die das Schicksal fĂŒr ihn bestimmt hatte. Die
geheimnisvollen KrĂ€fte in ihnen stieĂen aufeinander. [âŠ] Es ist in solchen Augenblik-
ken ganz gleichgĂŒltig, was gesprochen wird. Aus der senkrechten BĂŒgelfalte empor,
schien Arnheims Leib in der Gotteseinsamkeit der Bergriesen dazustehn ; durch die
Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeitsĂŒberglĂ€nzt
Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode, das an den Oberarmen kleine Puffen
bildete, ĂŒber dem Magen den Busen in eine kunstvoll gefaltete Weite auflöste und
unter der Kniekehle sich wieder an die Wade legte. Die GlasschnĂŒre der TĂŒrbehĂ€nge
spiegelten wie Weiher, die Lanzen und Pfeile an den WĂ€nden zitterten ihre gefiederte
und tödliche Leidenschaft aus, und die gelben Calman-Lévy-BÀnde auf den Tischen
schwiegen wie Zitronenhaine. (MoE 185)
In einer Mischung von Karikatur und erlebter Rede schildert Musils ErzÀhler
in dieser Passage das allzu zeitgebundene Empfinden scheinbar âewigerâ und
vor allem âhoherâ GefĂŒhle, das Diotima und Arnheim bei einer ihrer ersten
Begegnungen unter vier Augen ereilt. Er scheut dabei keineswegs vor scharfer
Pointierung zurĂŒck, was sich nicht allein in komischen Ăbertreibungen bei
der Gedankenwiedergabe manifestiert383, sondern auch in der abschlieĂenden
383 Etwa indem er folgende sichtlich ĂŒbertriebene VergleichsgröĂen anfĂŒhrt : âEs lĂ€Ăt sich das nur
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208