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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 953
exzerpiert Musil gerade diesen Passus und bleibt dabei trotz der Raffung dem
ursprĂŒnglichen Wortlaut auffallend treu : âGewisse â nicht nur erotische â Be-
ziehungen erhalten durch die Vorstellung, daà es ein gleiches VerhÀltnis noch
nie gegeben haben könne, hĂ€ufig einen eigenartigen Timbre.â (Tb 1, 183) Ent-
sprechendes trifft noch Jahrzehnte spÀter auf die von ihm gestaltete Bezie-
hung der beiden Geschwisterfiguren im Mann ohne Eigenschaften zu, deren
Liebe in den kanonischen Kapiteln von der in den erhaltenen frĂŒhen Kapitel-
entwĂŒrfen noch manifesten erotisch-sexuellen Tendenz sublimiert erscheint.
Wenn Ulrich im kanonischen Romantext beim ersten Wiedersehen mit
Agathe sogleich wortlos den âzwanglosen Ausdruck des Vertrauensâ (MoE
675) empfindet, liegt das auch weniger an ihrer durch sexuelle Differenz be-
dingten gegenseitigen erotischen Anziehung, sondern ist vor allem in ihrer ge-
schwisterlichen AffinitĂ€t und körperlichen Vertrautheit begrĂŒndet, die sich ge-
rade trotz des (scheinbar polaren) Geschlechtsunterschieds bewÀhrt : Agathes
Erscheinung ist âvon der gleichen duftigen Trockenheit der Hautâ geprĂ€gt, die
auch Ulrich âals das einzige an seinem eigenen Körperâ liebt (MoE 676).498
Mit Wohlgefallen nimmt der Bruder eine entfernte körperliche Korrespon-
denz im eigentlichen Wortsinn wahr : âEr betrachtete, wĂ€hrend sie sprach,
noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr Àhnlich dem seinen vor ; aber
vielleicht irrte er, es mochte ihm Àhnlich sein wie ein Pastell einem Holz-
schnitt, so daĂ man ĂŒber der Verschiedenheit des Materials das Ăbereinstim-
mende der Linien- und FlĂ€chenfĂŒhrung ĂŒbersah.â (MoE 676 ; vgl. MoE 694)
Die beiden passen auch âin der GröĂe zusammenâ (MoE 676). So scheinen sie
von Beginn an wie fĂŒreinander geschaffen, wobei Musil offenbar nie auf die
Gestaltung einer allererst (hetero)sexuell definierten Gemeinschaft aus war ;
bereits in seinen Notizen zur âErzĂ€hlungstechnikâ aus der ersten HĂ€lfte des
Jahres 1921 hat er hinsichtlich der allgemein geteilten Einheitssehnsucht auf
die Nachgeordnetheit der rein sexuellen Dimension hingewiesen :
Im erotischen Erlebnis ist das sich Hingebenwollen, Retten, EntfĂŒhren, Befreien
die ursprĂŒnglichere Wurzel als der Sexus. Die aufkommende SexualitĂ€t ĂŒberstrahlt
498 Fleig : Körperkultur und Moderne, S. 219, bezeichnet Ulrichs Vorliebe fĂŒr seine Haut als âauf-
schluĂreich, denn die Haut bezeichnet die Grenze zwischen Innen und AuĂen, die eng mit der
eigenen IdentitĂ€t verbunden ist und das Ich in sich schlieĂt.â Folgte man dieser von Claudia
Benthien inspirierten (voraussetzungsreichen) Deutung, dann mĂŒsste man allerdings die ge-
samte IdentitÀts- und Eigenschaftsproblematik Ulrichs noch einmal neu aufrollen. Dies ist aber
keineswegs zwingend, weil Ulrich ja nicht seine Haut an sich, sondern deren duftige Trocken-
heit schĂ€tzt, die keineswegs ein Garant fĂŒr Ich-IdentitĂ€t ist, sondern in der literarischen Topik
im Gegenteil allenfalls Melancholie indiziert.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208