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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 957
Die Geschwister sind freilich nicht gewillt, dem vÀterlichen Ansinnen zu
entsprechen und damit eine Ordnung zu reproduzieren, die sie als zu-
tiefst ablehnungswĂŒrdig erachten.509 Symbolisch vor Augen gefĂŒhrt wird
ihnen diese beim BegrĂ€bnis des Vaters, wo Ulrich, âals Erster den ĂŒbrigen
voranschreiten[d], zur Seite des kaiserlich und königlichen Statthalters, der zu
Ehren des letzten Schlafes eines Herrenhausmitgliedes persönlich erschienen
warâ, sowie des âĂlteste[n] einer dreigliedrigen Abordnung des Herrenhau-
sesâ, mehr oder weniger widerwillig einen gleichsam stĂ€ndestaatlichen Lei-
chenzug anfĂŒhrt, wĂ€hrend Agathe, âvon schwarzen Frauen eingesĂ€umt und
den Punkt bezeichnend, wo zwischen den Spitzen der Behörden das zuge-
messene private Leid seinen Platz hatteâ, erst in gehörigem Abstand folgt,
âdenn die regellose Teilnahme der ânichts als mit-FĂŒhlendenâ begann erst hin-
ter den in amtlicher Eigenschaft Erschienenenâ (MoE 708 f.). Es handelt sich
bei dieser Prozession von EigenschaftstrĂ€gern also âvornehmlichâ um einen
âZug von MĂ€nnern, und zu seiten Agathens schritt nicht Ulrich, sondern ihr
Ehemann Professor Hagauer, dessen rotapfeliges Gesicht mit der borstigen
Raupe ĂŒber dem Mund ihr inzwischen fremd geworden warâ (MoE 709).
Angesichts dieser trotz des privat-familiÀren Anlasses höchst zeremoniel-
len â und nicht freiwillig gewĂ€hlten â Konstellation ĂŒberrascht es kaum, dass
âUlrich selbst, der in den vielen vorangegangenen Stunden immer mit seiner
Schwester beisammen gewesen warâ, âmit einemmal das GefĂŒhlâ hat, âdaĂ
die uralte BegrĂ€bnisordnung, die noch aus der GrĂŒndungszeit der UniversitĂ€t
stammte, sie ihm entrissen habe, und entbehrte sie, ohne daĂ er sich auch nur
nach ihr umwenden durfteâ (MoE 709). Gleichwohl verspĂŒrt er ein letztes
Mal die suggestive Kraft des âSeinesgleichenâ, die es ihm bisher nicht erlaubt
hatte, aus der herrschenden Ordnung des Daseins auszubrechen :
Ulrich empfand mit Staunen ein unbeschreibliches Wiedertönen in sich, in dessen
Schwingung sich sein Körper aufrichtete, als wĂŒrde er von der Getragenheit, die ihn
umgab, ganz wirklich getragen. Und wie er nun einmal an diesem Tag den anderen
nÀher war, stellte er sich gleich dazu vor, wie anders das noch wÀre, wenn er in die-
sem Augenblick, dem ursprĂŒnglichen Sinn des halbvergessen von der Gegenwart
509 Vgl. etwa Kremer : Parallelaktion, S. 33 f. u. 36 : âErst mit dem Tod des Vaters, den dieser selbst
schriftlich besiegeln muĂ, wird die Parallelaktion fĂŒr Ulrich gegenstandslos, kann im Sande ver-
laufen und den Weg frei machen fĂŒr das ursprĂŒngliche Kindheitsbegehren, eine Frau sein zu
wollen und sich mit dem narziĂtischen Spiegelbild der Schwester zu vereinigen. [âŠ] Nachdem
der Vater, der fĂŒr Ulrich gleichzeitig als HĂŒter des Gesetzes und heimlicher Mentor der Paral-
lelaktion auftritt, abgetreten ist, wird der Weg frei fĂŒr eine direktere Formulierung seines andro-
gynen Kindheitswunsches. Die angedrohte Strafe des Vaters geht ihn gar nichts mehr an.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208