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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld958
ĂŒbernommenen GeprĂ€nges gemĂ€Ă, wirklich als der Erbe einer groĂen Macht einher-
schritte. (MoE 709 f.)
Wenngleich er die soziale InadĂ€quatheit des von den VorvĂ€tern ĂŒberkomme-
nen Zeremoniells allenthalben spĂŒrt, kann sich der Mann ohne Eigenschaften
nicht verhehlen, dass von dem ĂŒber Jahrhunderte eingeschliffenen offiziösen
BegrÀbnis- und Initiationsritus ein konsolatorischer, ja optimistischer Effekt
ausgeht :
Das Traurige verschwand bei diesem Gedanken, und der Tod wurde aus einer
schrecklichen Privatangelegenheit zu einem Ăbergang, der sich in öffentlicher Feier
vollzog ; nicht mehr klaffte jenes grauenvoll angestarrte Loch, das jeder Mensch, an
dessen Dasein man gewöhnt ist, in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden hin-
terlĂ€Ăt, sondern schon schritt der Nachfolger an Stelle des Verstorbenen, die Menge
atmete ihm zu, das Totenfest war zugleich eine Mannbarkeitsfeier fĂŒr den, der nun
das Schwert ĂŒbernahm und zum erstenmal ohne Vordermann und allein seinem eige-
nen Ende zuschritt. (MoE 710)
Der Abschied vom verstorbenen Vater bedeutet gemeinhin zugleich die ge-
sellschaftliche Instituierung seines Sohns als legitimer Nachfolger und ver-
bĂŒrgt damit soziale KontinuitĂ€t. Wie MĂŒlder-Bach gezeigt hat, greifen die
âMechanismenâ, die das Zeremoniell dem mĂ€nnlichen Erben aufzwingt,
âauch ohne sein EinverstĂ€ndnisâ.510 Mehr noch :
Im Kampf um die Positionierung des Sohnes scheint derart der Vater ĂŒber den Tod
hinaus der StÀrkere zu bleiben. Wie im Ersten Buch, behauptet er sich auch zu Be-
ginn des Zweiten als die auktoriale Instanz, die durch eine als Vorschrift formulierte
Nachschrift aufs eigene Leben â die Offenbarung eines âLetzten Willensâ â die Nar-
ration auslegt. Erneut definiert er die Rolle, die sein Sohn â nun als Nachfolger und
Erbe â zu ĂŒbernehmen hat. Und erneut formiert sich in Ulrich gegen diese Vorschrift
ein stummer Protest, der zur Distanzierung von der ihm zugemuteten Rolle, nicht
aber zum VerstoĂ gegen das Gesetz des Vaters reicht.511
TatsĂ€chlich formuliert Ulrich immer neue ZurĂŒckweisungen des vĂ€terlichen
Erbes â getreu der nur fragmentarisch ĂŒberlieferten Maxime512 seiner VorgĂ€n-
510 MĂŒlder-Bach : Der âHandstreichâ der FĂ€lschung, S. 362.
511 Ebd.
512 Vgl. ebd., S. 357 u. 361.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208