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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld960
Sie fĂŒhrte das so aus, wie sie seinerzeit die Orden aus seiner zögernden Hand genom-
men hatte, um sie zu vertauschen, und in diesem Augenblick liebte er sie unerachtet
ihrer Gewissenlosigkeit mit dem merkwĂŒrdigen GefĂŒhl, daĂ es seine eigenen Ge-
danken seien, die von ihm zu ihr gegangen wÀren und nun von ihr wieder zu ihm
zurĂŒckkehrten, Ă€rmer an Ăberlegung geworden, aber wie ein Wildwesen balsamisch
nach Freiheit duftend. (MoE 797 f.)
Wiederum ist hier von der gemeinsamen Partizipation an âGedankenâ die
Rede, doch erst durch Agathes Zutun werden diese âĂ€rmer an Ăberlegungâ
und reicher an âFreiheitâ. Die von Ulrich schon frĂŒher wahrgenommene
Absichts- und Interesselosigkeit des âwildenâ schwesterlichen Handelns (vgl.
MoE 706) verweist auf ihre Autonomie516 â und damit indirekt auch auf jene
der Kunst, die sich in der emphatischen Moderne gern in einem VerstoĂ ge-
gen ĂŒberkommene gesellschaftliche GrundĂŒbereinkĂŒnfte manifestiert :
Der Zweck, zu dem das geschah, der Gedanke, daĂ es einer FĂ€lschung diene, ver-
schwand. Und in Wahrheit hatte sich das Agathe auch gar nicht ĂŒberlegt. Es
schwebte eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik um sie. GĂŒte, AnstĂ€n-
digkeit und Rechtlichkeit waren ihr, wie sie diese Tugenden an Menschen, die sie
kannte, und zumal an Professor Hagauer kennen gelernt hatte, immer nur so vorge-
kommen, als ob man einen Fleck aus einem Kleid entfernt hÀtte ; aber das Unrecht,
das in diesem Augenblick um sie selbst schwebte, war so, wie wenn die Welt im Licht
eines Sonnenaufgangs ertrinkt. (MoE 798)
Auf die strukturelle Analogie zwischen der Geschwisterhandlung und der von
Musil vertretenen Kunstvorstellung wird in den abschlieĂenden Ăberlegun-
gen dieses Kapitels noch zurĂŒckzukommen sein. An dieser Stelle sei stattdes-
sen hervorgehoben, dass Agathe ihren zögerlichen, weil âverkopftenâ Bruder
entschieden an praktischer RadikalitĂ€t und Konsequenz ĂŒbertrifft. Dass das ihr
selber durchaus bewusst ist, zeigt sich in den ironischen Worten, mit denen sie
den autoritativen Gestus des Vaters persifliert :
Sie nahm ein reines Papierblatt und schrieb ĂŒbermĂŒtig in den altmodischen SchriftzĂŒ-
gen, die sie so gut nachzuahmen verstand : âMeine böse Tochter Agathe bietet keinen
516 Vgl. MĂŒlder-Bach : Der âHandstreichâ der FĂ€lschung, S. 364 : âDiese Grundlosigkeit markiert
die spezifische Differenz zwischen dem schönen, weil zweckfreien Tun Agathes und den zahl-
reichen anderen, stets auf bestimmte Zwecke bezogenen FĂ€lschungen, von denen der Roman
erzĂ€hlt.â
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208