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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 961
Grund, diese einmal getroffenen Bestimmungen zuungunsten meines guten Sohnes
Ulo[517] zu Ă€ndern !â Damit war sie noch nicht zufrieden und schrieb auf ein zweites
Blatt : âMeine Tochter Agathe soll von meinem guten Sohn Uli noch eine Weile erzo-
gen werden.â (MoE 799)
Die in dieser fortgesetzten FĂ€lschung und ĂŒberzeichnenden Imitation des au-
toritĂ€ren Vatertons manifeste abgrĂŒndige Ironie verdeutlicht, dass Agathes
grundlegend subversive Einstellung selbst vor der âmĂ€nnlichenâ VernĂŒnftigkeit
des Bruders nicht haltmacht. Ulrich kann sich der SuggestivitÀt ihres um ge-
sellschaftliche RĂŒcksichten unbekĂŒmmerten Handelns trotz starker Zweifel
nicht entziehen. Statt das zu tun, was ârechtlichermaĂenâ (MoE 799) zu tun
wĂ€re, will er ââes darauf ankommen lassenâ, was aus Agathes Einfall entstĂŒndeâ
(MoE 827), und muss schlieĂlich begreifen, âdaĂ er nicht mehr zu wĂ€hlen
habe, sondern sich schon in dem Zustand befinde, vor dem er noch zaudereâ
(MoE 870) : nÀmlich inmitten einer Geschichte, die lÀngst angefangen hat
âund von Ulrich als Medium seines Lebensexperiments ĂŒbernommen werden
kann, weil sie ihre Regeln in ihrem eigenen Fortgang selbst erfinden muĂâ518
â entsprechend der von ihm bisher nur gesprĂ€chsweise vertretenen essayis-
tischen âMoral des nĂ€chsten Schrittesâ. Als seine Schwester ihn fragt, ob sie
âin der nĂ€chsten Zeit nicht einfach bei [ihm] wohnenâ könne, begreift Ulrich
endlich, âdaĂ mit diesem Versuch der Versuch seines âLebens auf Urlaubâ ab-
schlieĂen mĂŒsseâ (MoE 801). Die erzĂ€hlerische Basiskonstellation des Ersten
Buchs wird damit endgĂŒltig verabschiedet, wie auch dessen Protagonist weiĂ,
der damit gut leben kann :
Er wollte nicht ĂŒberlegen, welche Folgen das haben werde, aber daĂ sein Leben
fortab gewissen EinschrÀnkungen unterworfen wÀre, war ihm nicht unwillkommen,
und zum erstenmal dachte er wieder an den Kreis und zumal an die Frauen der Paral-
lelaktion. Die Vorstellung, sich von allem abzuschlieĂen, die mit der neuen VerĂ€nde-
rung verbunden war, dĂŒnkte ihn wundervoll. (MoE 801)
517 Abgesehen von den âJugendfreundenâ Walter und Clarisse (vgl. MoE 63, 67 u. 658), bei denen
es ein Zeichen ehemaliger Verbundenheit ist, nennt ihn einzig wieder Agathe mit dem Kose-
namen âUloâ (MoE 796, 799 u. 1431). Ganz allgemein sei in diesem Zusammenhang an die
von Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 192, beschriebene âMacht [âŠ] der Benennungâ
erinnert, welche nur Liebende einander einrĂ€umen und welche âsich in all den nur ihnen selbst
bekannten Namen manifestiertâ, die sie sich âgegenseitig geben und die, wie bei einem Initia-
tionsritus, Zeichen fĂŒr ein Neugeborenwerden, einen absoluten Neuanfang, eine ontologische
StatusverĂ€nderung sindâ.
518 MĂŒlder-Bach : Der âHandstreichâ der FĂ€lschung, S. 364.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208