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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld966
wird, gibt es eine Menge von Nebenblicken ins Soziale, Religiöse usw., die sich
immer unerwartet einstellenâ (Br 1, 615). Wie aus dieser programmatischen
Selbstcharakterisierung wiederum hervorgeht, möchte Musil den romanstruk-
turellen Stellenwert des Sozialen â wie wohl auch seine gesellschafts- und er-
kenntniskritische Gesinnung insgesamt â trotz des verĂ€nderten thematischen
Schwerpunkts im Zweiten Buch keineswegs ĂŒber Bord werfen, wenngleich er
ihm angesichts der verlagerten Gewichte in seiner Darstellungsintention nur
âNebenblickeâ widmen zu können glaubt.
Eine Vielzahl von Interpreten hat diesen Sachverhalt freilich entschieden
anders gesehen als der sich selbst interpretierende Autor. Die Rede von Musils
âSalto rĂŒckwĂ€rts aus der Moderne in den Mythosâ531, von dem (spĂ€testens) im
Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften angeblich zu beobachtenden âUm-
schlag von Erkenntniskritik in Mythologieâ532, ist innerhalb und auĂerhalb der
Germanistik so gÀngig wie seit jeher prekÀr. Eine Literaturwissenschaft oder
eine Philosophiegeschichtsschreibung, die sich in erster Linie um âEinflĂŒsseâ
bzw. um die ideengeschichtliche (Re-)Konstruktion von scheinbar kontinuier-
lichen geistigen Traditionen und deren âUrsprĂŒngenâ kĂŒmmert, findet hier ein
ĂŒberreiches BetĂ€tigungsfeld, ebenso eine selbstgewisse Ideologiekritik, der es
vordringlich um das Zurechtstutzen eines nur vorderhand allzu ĂŒberlegen er-
scheinenden Autors zu tun ist.533 Die spezifische Àsthetische und erzÀhlerische
Funktion der Musilâschen Anverwandlung traditioneller Mythologeme gerĂ€t
dabei tendenziell ins Hintertreffen ; sie erhĂ€lt zumindest nicht die ihr gebĂŒh-
rende Aufmerksamkeit.
Als einschlĂ€gig fĂŒr die im Roman angeblich betriebene âRemythisierungâ
gelten vor allem Passagen aus den âapokryphenâ Kapiteln, insbesondere aus
dem unter dem Titel âDie Reise ins Paradiesâ bekannt gewordenen ausfĂŒhrli-
chen Kapitelentwurf der mittleren zwanziger Jahre (MoE 1651â1675), dessen
Autorisierungsgrad als eher niedrig einzustufen ist.534 Mit Blick auf das Ver-
hÀltnis zwischen dem noch unter dem Namen Anders firmierenden mÀnnli-
chen Protagonisten und seiner Schwester Agathe ist darin von einem schein-
bar dauerhaften âAugenblickâ der geschwisterlichen Innigkeit die Rede, der
531 So Riedel : Der Mann ohne Eigenschaften, S. 277.
532 So schon im vollstÀndigen Titel des Aufsatzes von Frank : Auf der Suche nach einem Grund.
Ăber den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil ; vgl. auch Frank : Remythi-
sierte Erkenntniskritik, S. 315â332.
533 Unter den zahlreichen Beispielen vor allem aus den siebziger Jahren vgl. etwa Laermann : Ei-
genschaftslosigkeit ; HĂŒppauf : Von sozialer Utopie zur Mystik, bes. S. 163â165 u. 172â177.
534 Vgl. Fanta : Die Entstehungsgeschichte, S. 65 ; KA, Komm. zu M VII/9 ; dagegen Zingel : Ulrich
und Agathe, S. 170 f.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208