Page - 971 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 971 -
Text of the Page - 971 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 971
berufen546, die aus der Zeit seiner skeptischen LektĂŒre von Ricarda Huchs
BlĂŒtezeit der Romantik (1899)547 stammen : In einer Notiz aus dem Arbeitsheft
11 vom 6. April 1905 hĂ€lt er fest, dass es â[s]eine Aufgabeâ als Dichter sei,
âbei der Romantik und Mystik in die Lehre zu gehenâ (Tb 1, 137). Weniger
beachtet wurde allerdings meist der unmittelbare argumentative Kontext, in
dem Musil von seiner Suche nach âDataâ hinsichtlich der âBilanz zwischen
BewuĂtem und UnbewuĂtem in korrektem Sinneâ handelt : er selbst sei nĂ€m-
lich âaugenblicklich nicht reich an solchen Erkenntnissenâ (Tb 1, 139). Der
vierundzwanzigjÀhrige Autor sammelt in der romantischen und mystischen
Tradition zwar tatsÀchlich thematisches und vor allem stilistisches Material
fĂŒr sein Romanprojekt, nicht aber bereits Antworten auf eigene existenzielle
und erkenntnistheoretische Fragen. Deutlich wird dieser Sachverhalt gerade
in einer EinschrÀnkung, die unmittelbar auf die Formulierung der selbstge-
stellten âAufgabeâ folgt : âDie einzige kritische TĂ€tigkeit ist dabei, ihre Ideen
auf den rein sentimentalen Gehalt zu reduzieren, d. h. das abzuschneiden,
was nur unter einem gewissen metaphysischen Gesichtspunkte, etwa dem der
Schellingschen Naturphilosophie möglich ist.â (Tb 1, 139) An der eigentlichen
romantischen und mystischen Doktrin, an ihrer spezifischen Metaphysik, Psy-
chologie und Erkenntnistheorie, hat also schon der junge Musil kein genui-
nes Interesse. Weniger noch : Er hĂ€lt sie sogar fĂŒr der modernen Wirklichkeit
gegenĂŒber inadĂ€quat : âDie Romantiker aus der Jenenserzeit [âŠ] wĂ€ren [âŠ]
wohl weder punkto sentio noch punkto mens den Modernen gewachsen.â
(Tb 1, 140) Eine im engeren Sinn philosophische Anleihe bei ihnen, die ĂŒber
die bloà Àsthetische Anverwandlung romantischer und mystischer Motive hi-
nausginge, wÀre angesichts dieser Haltung sicherlich verfehlt.
Entsprechendes geht auch aus einer weiteren Selbstreflexion hervor, die
Musil ungefÀhr zur selben Zeit und in direktem Bezug auf die zuletzt zitierte
Stelle im Arbeitsheft 3 notiert ; ausgehend von seinem nunmehr prekÀren Ver-
hĂ€ltnis zum Jugendfreund Gustav Donath â dem biografischen Vorbild der
Walter-Figur im Mann ohne Eigenschaften â entwickelt er hier eine regelrechte
anthropologische Opposition : âIn der Sinnlichkeit reprĂ€sentiert Robert den
âmodernenâ Typus, Gustl den âromantischenâ.â (Tb 1, 98) Vor dem Hinter-
grund einer solchen Bestimmung des eigenen Standorts ist es auszuschlieĂen,
dass Musil konzeptionell einen (ihm zufolge regressiven) âUmschlagâ in die
romantische Mythologie bezweckt. Das Gegenteil ist der Fall, wie sich an-
546 Vgl. etwa Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 331.
547 Der junge Musil nannte Huchs Romantikdarstellung abschĂ€tzig âein echtes Weiberbuchâ (Tb 1,
139).
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208