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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 977
Idealtypisch fĂŒr eine solche Revitalisierung ĂŒberkommenen mystischen Er-
lebens, die mit einem âzeitgemĂ€Ăenâ Verfolg handfester ökonomischer In-
teressen durchaus einhergehen kann, figuriert im Roman Paul Arnheims
âInteressenfusion Seele-GeschĂ€ftâ (MoE 380 u. 389) â ebenfalls eine Instru-
mentalisierung des Mythos, aber zu einem eindeutig âauĂermythischenâ
Zweck : Wie gezeigt wurde, kaschiert Arnheims raunendes Sprechen ĂŒber die
Seele allererst sein Interesse am Erwerb der âgalizischen Ălfelderâ (vgl. MoE
616, 642 u. 1009), dient also nicht einem Erkenntnisfortschritt, sondern im
Gegenteil der ideologischen Verschleierung.
KontrĂ€r dazu verhĂ€lt es sich in den âHeilige[n] GesprĂ€che[n]â (MoE 746)
zwischen Ulrich und Agathe, die sich nicht von ungefÀhr an einer nietzsche-
anisch anmutenden Kritik der ĂŒberkommenen Moral entspinnen und die Ge-
schwister in einen Zustand der gesteigerten Ekstase bringen. Dennoch findet
kein âUmschlagâ in den Mythos statt : Ulrich versucht bei seiner LektĂŒre mys-
tischer Schriften stets, ââso nĂŒchtern wie möglich nach[zu]sehn, was hier vor
sich gehtââ (MoE 753). Denn er ist sich bewusst : â[I]n diesen Fragen wird viel
zu viel Schwindel getrieben !â (MoE 765) Durch seine âvorsichtige Haltungâ
(MoE 753) gelingt es ihm, den âzweiten und ungewöhnlichen Zustand [âŠ],
dessen der Mensch fĂ€hig ist und der ursprĂŒnglicher ist als die Religionenâ
(MoE 766), sprachlich zu evozieren, ohne ihn durch die unangemessene Be-
grifflichkeit des âersten Zustandsâ gleich wieder zu zerstören. Die möglichst
akkurate Differenzierung zweier ZustÀnde des Menschen zielt auf anthropolo-
gische Erkenntnis in der âheutigenâ Welt.563 FĂŒr Musil haben beide die gleiche
ontologische Wertigkeit, mĂŒssten also von einer adĂ€quaten Erkenntnistheo-
rie gleichermaĂen durchleuchtet werden. Im Unterschied aber zu den zeit-
genössischen Adaptationen einer âNeuen Mythologieâ (etwa Stefan Georges
und verschiedener Autoren der âkonservativen Revolutionâ) wehrt er sich ve-
hement gegen jede Form von Antimodernismus564 â in den Worten Ulrichs :
âIch bin nicht fromm ; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob
so Naturfreude-artig istâ (MoE 1655), oder : âMan muĂ etwas beschrĂ€nkt sein, um die Natur
schön zu finden.â (MoE 1671)
563 Vgl. folgende Klarstellung : âDas ist also heute die Wahrheit : der Mensch hat zwei Daseins-,
BewuĂtseins- und DenkzustĂ€nde und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck,
den ihm das einflöĂen mĂŒĂte, auf die Weise, daĂ er die einen fĂŒr den Urlaub von den andern
hĂ€lt, fĂŒr ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik
dagegen wĂ€re verbunden mit der Absicht auf Dauerferien.â (MoE 767)
564 Vgl. dagegen Johach : Die unerlösten Geschlechter Kakaniens, S. 129 : âDie âheiligen GesprĂ€-
cheâ sind Ausdruck der [âŠ] zeittypischen RĂŒckverlagerungen der âGeschlechterfrageâ in arche-
typische Urszenen im Jungâschen Sinne.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208