Page - 979 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 979 -
Text of the Page - 979 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 979
Katastrophe mĂŒnden sollte), andererseits gegen den allgegenwĂ€rtigen âmoder-
nenâ GeschĂ€ftsgeist, der als Schwundform des âWirklichkeitssinnsâ dem plat-
testen Positivismus sowie ideologisch einer lÀngst abgewirtschafteten Moral
Vorschub leistet und eine ganze anthropologische Dimension des Menschen
auĂer Acht lĂ€sst. Der ErzĂ€hler erlĂ€utert den âdoppelten Bruchâ anhand der
bereits diskutierten âZweiteilungâ des menschlichen Denkens in verschiedene
perzeptive Dispositionen :
Will man das recht verstehen, so braucht man sich nur zu vergegenwĂ€rtigen, daĂ
diese Abkehr von der irdischen Ordnung ohne Glauben an eine ĂŒberirdische etwas
zuinnerst NatĂŒrliches ist, denn in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Den-
ken mit seinem strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der Ă€uĂe-
ren VerhĂ€ltnisse ist, ein affektives gelten, dessen Logik, soweit man ĂŒberhaupt von
einer solchen reden darf, den Eigenheiten der GefĂŒhle, Leidenschaften und Stim-
mungen entspricht, so daà sich die Gesetze dieser beiden ungefÀhr so zueinander
verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbe-
reit aufgestapelt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes und
ihrem Treiben und Rauschen. (MoE 857)
Die beiden Denkweisen möchte Musil freilich nicht als absolut antagonistisch
missverstanden wissen ; er sieht sie vielmehr in allen möglichen Konstellati-
onen nach dem Muster einer gegenseitigen âDurchdringung rationaler und
irrationaler Elementeâ vermengt, wobei er es als zentrale darstellerische Auf-
gabe der Dichtung ansieht, âdie Forderung nach beiden Seiten gleich hoch
zu haltenâ, wie er 1931 im Essay Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu
(GW 8, 1217) formuliert. Ein Beleg fĂŒr diese auch innerhalb des Romantextes
vertretene âdoppelte Distinktionâ ist sein Lieblingsgleichnis, dem zufolge selbst
âdie Mathematik [sich] zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu
gelangenâ (MoE 761).569 Wie Uwe Spörl (mit Blick auf den TörleĂ) gezeigt
hat, deutet sich anhand des hier angesprochenen PhÀnomens der imaginÀren
Zahlen, die âeine Art BrĂŒckenfunktion zwischen zwei unterschiedlichen Re-
alitĂ€tsbereichenâ innehaben, âobwohl sie gar nicht existierenâ, Musils Projekt
einer âVermittlung der beiden Wirklichkeitsauffassungenâ an.570 Denn noch in
den scheinbar âratioĂŻdestenâ Bereichen des modernen Lebens gibt es unhinter-
gehbare Momente des âMystischenâ, das deshalb als âAhnung von Einheit und
Liebeâ und von âdem ganzen Zusammenhang der Wesenâ nach wie vor ein
569 Vgl. die entsprechende Gedankenfigur im TörleĂ und in Die SchwĂ€rmer (GW 6, 73â78 u. 385).
570 Spörl : Gottlose Mystik, S. 300 f.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208