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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 981
grunde liegen, lÀsst es allerdings geboten scheinen, weniger die Darstellung
mystischer ZustÀnde selbst anzustreben, sondern jeweils eine möglichst ge-
naue Analyse der spezifischen âmystikinduzierendenâ Konstellation.576 Das soll
abschlieĂend eine RelektĂŒre der fragmentarisch gebliebenen Reinschrift des
Kapitels âAtemzĂŒge eines Sommertagsâ vor Augen fĂŒhren, die ĂŒber den Um-
weg der Reflexion von Einheits- und Kunsterfahrungen wieder zur Liebesthe-
matik zurĂŒckfĂŒhrt und sich dabei an den Ergebnissen der neueren Forschung
orientiert.
Der Kirchenvater und scholastische Philosoph Thomas von Aquin hat
die christliche Mystik begrifflich als âcognitio dei experimentalisâ bestimmt,
was so viel wie âerfahrungsgemĂ€Ăe Erkenntnis Gottesâ heiĂt.577 Diese Art
der Erkenntnis wird demnach nicht rational gewonnen, sondern gleichsam
sinnlich erfahren. Die dem mystischen Zustand zugrunde liegende Span-
nung zwischen gedanklicher und gefĂŒhlsmĂ€Ăiger Herangehensweise schlĂ€gt
sich in einer Vielzahl paradoxaler Verbindungen nieder : âIn der unio mystica
werden die zur Einheit verschmolzenen Positionen ununterscheidbar : Der
Sohn ist der Vater und der Heilige Geist, die menschliche Seele ist iden-
tisch mit Gott.â578 Daraus folgert Martina Wagner-Egelhaaf : âDie mystische
Spekulation bewegt sich also auf einer Gratlinie zwischen Ăhnlichkeit und
UnÀhnlichkeit ; oder anders gesagt : Im Medium des Sagbaren kreist sie um
das Unsagbare, die Erfahrung des Anderen.â579 Eine besondere Rolle im
deutschsprachigen Kontext spielen die auch von Musil auszugsweise rezipier-
ten volkssprachlichen Predigten und Traktate Meister Eckharts (ca. 1260â
1327/28), die vom âunablĂ€ssigen BemĂŒhenâ getragen sind, âdas mystische
Erlebnis, die unio mystica oder die Gottesgeburt in der Seele, wie Eckhart das
mystische Zentralerlebnis nennt, intellektuell wenn nicht zu erfassen, so doch
zu vermittelnâ.580
576 Dies ist fĂŒr Musil der einzige in der Moderne gangbare Weg, die Erfahrung des âanderen Zu-
standsâ sprachlich zu vermitteln ; vgl. dazu seine Rathenau-Kritik Anmerkung zu einer Meta-
psychik, wo er nahelegt, âdas Erlebnis als ein seltsames und fragiles [zu] betrachten, was es
auch ist, dessen Bedingungen man untersucht, dessen Gehalt man an andren Lebensgehalten
erprobt, fĂŒr das man einen gebĂŒhrenden Platz in sich suchtâ (GW 8, 1018).
577 Vgl. Spörl : Gottlose Mystik, S. 16 ; Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der Moderne,
S. 196.
578 Ebd., S. 197.
579 Ebd.
580 Ebd., S. 196. Zu Musils Eckhart-Rezeption vgl. jetzt den grundlegenden Aufsatz von Spreit-
zer : Meister Musil. Ihre philologisch akkurate, wenngleich manchmal ein wenig monoman
wirkende und ĂŒbers Ziel hinausschieĂende (Re-)Konstruktion eines âEckhart-Einflussesâ fĂŒhrt
Spreitzer freilich zu fragwĂŒrdigen Schlussfolgerungen im Sinne einer angeblichen ReligiositĂ€t
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208