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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1025
dem, was es gab, geĂ€uĂert, besaĂ ausgebreitete Ăberzeugungen und sah keine
Grenze, an der er hĂ€tte aufhören mĂŒssen, auch in Zukunft neue, harmonisch
aus den alten entwickelte Ăberzeugungen zu gewinnen, wenn er in der glei-
chen Weise weiter fortfuhr.â (MoE 392) Mit fortschreitender Routine aller-
dings stellen sich erstmals gewisse Zweifel ein, die wiederum von Rathenaus
Biografie inspiriert sein mögen :
[A]ber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daà sich in
seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geĂ€ndert hatte, [âŠ] wuchsen der Mangel
greifbarer Ergebnisse und das MiĂbehagen, sein Ziel verfehlt [âŠ] zu haben, drĂŒk-
kend an. Er ĂŒberblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte,
so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloĂ einem sehn-
sĂŒchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrĂŒckt zu
sehen, die tÀglich dicker wurde. (MoE 392)
In solchen Empfindungen klingt jenes âursprĂŒnglicheâ Sensorium Arnheims
fĂŒr Erfahrungen des âanderen Zustandsâ an, das Musil dem Widersacher seines
Protagonisten durchaus konzediert688, doch im selben Atemzug als verdrÀngt
und verschĂŒttet kennzeichnet. TatsĂ€chlich gewinnen beim erwachsenen Na-
bob stets stereotype Floskeln ĂŒber unmittelbares Erleben die Oberhand. So
gibt Musil im Zusammenhang der AusfĂŒhrungen ĂŒber den Schriftsteller Arn-
heim ein signifikantes Beispiel fĂŒr die âeingeschliffene Formelhaftigkeitâ des
Schreibens ĂŒber die âSeeleâ :
Er hatte die MuĂe [âŠ] dazu benĂŒtzt, seinem SekretĂ€r einen Aufsatz ĂŒber die Ăber-
einstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren,
688 Vgl. etwa folgenden ErzĂ€hlerbericht ĂŒber Arnheims Umgang mit seiner Sammlung goti-
scher und barocker Skulpturen, also den kĂŒnstlerischen Darstellungen von âHeiligenâ und
âBannertrĂ€ger[n] des Gutenâ in meist âsehr beglĂŒckten, ja verzĂŒckten Stellungenâ : â[E]r setzte
sich auch oft allein und einsam in seinen Saal, und dann war ihm ganz anders zumute ; ein
schreckartiges Staunen war in ihm wie vor einer halb irrsinnigen Welt. Er fĂŒhlte, wie in der
Moral ursprĂŒnglich ein unsĂ€gliches Feuer geglĂŒht hat [âŠ]. Diese dunkle Erscheinung von dem,
was alle Religionen und Mythen durch die ErzĂ€hlung ausdrĂŒcken, daĂ die Gesetze uranfĂ€ng-
lich dem Menschen von den Göttern geschenkt worden seien, die Ahnung also eines FrĂŒhzu-
stands der Seele, der nicht ganz geheuerlich und doch den Göttern liebenswert gewesen sein
muĂte, bildete dann einen seltsamen Rand von Unruhe um sein sonst so selbstgefĂ€llig ausge-
breitetes Denken.â (MoE 187) Vgl. dazu Corino : Musil [2003], S. 871 : âTrotz aller Skepsis hin-
sichtlich Rathenaus dutzendfach formuliertem Programm legte er [Musil, N. C. W.] offenbar
â gegen die historische Ăberlieferung â Wert darauf, daĂ Arnheim mitten in einem Zentrum
der Mechanisierung, nĂ€mlich in Berlin, mystische Erlebnisse hatte.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208