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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1030
wĂ€re nun zu schlieĂen, dass eine Unterscheidung zwischen einer âeigentli-
chenâ und einer âuneigentlichenâ Existenz â ob öffentlich oder privat â wenig
sinnvoll ist. Mit der einfachen ErklĂ€rung, dass es sich um bloĂe RollenidentitĂ€-
ten handle, will sich Diotima indes nicht zufriedengeben, denn sie ist stets auf
das Wesen der Dinge bedacht :
So sehr es ihr [âŠ] schmeichelte, daĂ ihr Seelengeliebter allen MĂ€nnern gefiel, die
sie um sich versammelt hatte, und namentlich mit den jĂŒngeren unternehmend ver-
kehrte, entmutigte es sie doch zuweilen, ihn in diese Betriebsamkeit verflochten zu
sehn, und sie fand, daĂ sich ein GeistesfĂŒrst weder den Verkehr mit dem gewöhn-
lichen Geistesadel so angelegen sein lassen dĂŒrfte, noch dem beweglichen Markten
der Gedanken zugÀnglich sein sollte. (MoE 429)
Der fĂŒr eine aufgestiegene Angehörige der Wiener Bourgeoisie charakteristi-
sche SozialdĂŒnkel, der sich habituell an den Gepflogenheiten des kakanischen
Hochadels misst, erweist sich angesichts der neuartigen kommunikativen Pra-
xisformen Arnheims als hoffnungslos veraltet, wie der ErzĂ€hler weiĂ, der die
âUrsacheâ fĂŒr dessen Konzilianz gegenĂŒber âdem gewöhnlichen Geistesadelâ
wie auch der Offenheit gegenĂŒber âdem beweglichen Markten der Gedan-
kenâ damit begrĂŒndet, âdaĂ Arnheim kein GeistesfĂŒrst war, sondern ein GroĂ-
schriftstellerâ (MoE 429). Was hat es nun mit dieser feinen Differenzierung
fĂŒr eine Bewandtnis ? Musil stellt sie in einen bezeichnenden historischen Zu-
sammenhang und lÀsst sie damit als Begleiterscheinung gesellschaftlicher und
kultureller Modernisierung erscheinen :
Der GroĂschriftsteller ist der Nachfolger des GeistesfĂŒrsten und entspricht in der
geistigen Welt dem Ersatz der FĂŒrsten durch die reichen Leute, der sich in der poli-
tischen Welt vollzogen hat. So wie der GeistesfĂŒrst zur Zeit der FĂŒrsten, gehört der
GroĂschriftsteller zur Zeit des GroĂkampftages und des GroĂkaufhauses. Er ist eine
besondere Form der Verbindung des Geistes mit groĂen Dingen. (MoE 429)
Das herausragende Attribut des GroĂschriftstellers ist deshalb eine quantitativ
wie auch immer zu definierende âGröĂeâ, die mit dem Geist einhergeht und
deren Entstehen die neuartigen ProduktionsverhÀltnisse der kapitalistischen
sehen nach Schluà ihrer Arbeit, wenn sie aufgerÀumt sind, genau so aus wie ein aufgerÀumtes
BĂŒro, wo das Schreibzeug in den Laden verwahrt ist und die Sessel auf den Tischen stehn. Sie
bestehen aus zwei MĂ€nnern, und man weiĂ nicht, ob sie nun eigentlich am Abend oder am
Morgen zu sich zurĂŒckkehren ?â (MoE 428 f.)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208