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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1037
dahin geht, daĂ auch das seelische Leben sich nach dem Erfolg und das ist letzten
Endes nach Gesetzen richtet, die den wirtschaftlichen Àhnlich, wenn nicht mit ihnen
identisch sind. Angebot und Nachfrage, Mehrwert, Grenznutzen, Tausch, Rentabili-
tĂ€tsprinzip und dergleichen lassen sich heute nicht nur auf materielle GĂŒter, sondern
zufolge unsrer sozialen VerhÀltnisse, die jeden Menschen aufs engste mit der Wirt-
schaft verflechten, zwangslos auch auf die seelischen und âhohenâ GĂŒter, auf Liebe,
Moral, Ideale, Kunst usw. anwenden. Auch diese sind Werte, die privat und öffent-
lich bewirtschaftet werden, und es ist die Grenze sehr schwer anzugeben, jenseits
deren ein Menscheninneres nicht auf die Wirtschaft horcht, sondern noch auf sein
sokratisches Daimonion. Bekanntlich ist in der Philosophie wiederholt der Versuch
gemacht worden, die moralischen und sozialen Verhaltungsweisen auf einheitliche
Grundprinzipien wie Egoismus oder Luststreben zurĂŒckzufĂŒhren, und jedesmal
fĂŒhrte dies in eine gewisse Flachheit, weil der Mensch viel weniger einfach als ein
summativer Zusammenhang positiver und negativer Impulse ist. Ich sehe deshalb
auch das Wesentliche dieser wertphilosophischen Arbeit nicht in einer Perspektive,
die es einmal erlauben könnte, Wirtschaftsprinzipien sozusagen als konstituierende
universale Gesetze des inneren und Ă€uĂeren Daseins nachzuweisen, sondern in dem
Beweis, der mit groĂer Lebenskenntnis gefĂŒhrt ist, daĂ sie tatsĂ€chlich, sei es per fas
oder nefas, unsre Kultur beeinflussen. (GW 9, 1629 f.)
Um die genauere Analyse dieses Einflusses ist es Musil nicht zuletzt im gro-
Ăen Roman zu tun, der ja âBeitrĂ€ge zur geistigen BewĂ€ltigung der Welt gebenâ
(GW 7, 942) soll. Insofern kann es nicht ĂŒberraschen, wenn sein ErzĂ€hler im
Kapitel âDie Verbindung mit groĂen Dingenâ hinsichtlich des Buchwesens
einen regelrechten Abriss der buchhandelsgeschichtlichen Entwicklung lie-
fert : Die historischen UmwÀlzungen712, die zur gesteigerten WertschÀtzung
der GröĂe fĂŒhrten, seien zunĂ€chst zwar noch auf gewisse WiderstĂ€nde gesto-
Ăen : âSo gab es zum Beispiel schon BĂŒcher [âŠ], die in sehr groĂen Auflagen
verkauft wurden, aber man erwies ihnen noch nicht den gröĂten Respekt, ob-
gleich bereits groĂer Respekt nur BĂŒchern von einer gewissen Auflagenhöhe
aufwĂ€rts erwiesen wurde.â (MoE 399) Doch sei die âUmwertung im Range
712 Zu den tatsĂ€chlichen historischen VerĂ€nderungen im Gefolge der Hyperinflation der frĂŒhen
zwanziger Jahre, in deren Verlauf die meisten Dichter âauf die Stufe des materialistisch aus-
gerichteten Erwerbslebens herabgedrĂŒckt wurdenâ, vgl. Kaes : Schreiben und Lesen in der
Weimarer Republik, S. 39 f.: âDie krisenhafte ErschĂŒtterung der geistigen ProduktionsverhĂ€lt-
nisse in der Weimarer Republik hat eine Umbruchssituation geschaffen, in der Schriftsteller
und Intellektuelle zunehmend gezwungen wurden, sich um die ökonomischen Bedingungen
ihres Schreibens selbst zu sorgen.â Mehr zu der rapide erfolgenden Kommerzialisierung des
deutsch(sprachig)en Literaturbetriebs ebd., S. 38â60.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208