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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1055
freundschaftlich beim Oberarm.â (Tb 1, 295) Schockierender noch stellt sich
diese Begebenheit in der Erinnerung Hans Mayers dar :
Ich erinnere mich, Musil [âŠ] gefragt zu haben, ob es stimme, daĂ Rathenau, wie man
gehört hatte (Rathenau war ja sehr hoch gewachsen), von seiner Höhe herab seinen
Besuchern, sie gleichsam in dieser Weise protegierend, den Arm um die Schulter
oder auf die Schulter zu legen pflegte. Musil wurde bleich vor Zorn, sah mich an und
sagte zu mir : âJa, und denken Sie, er hat es auch bei mir gemacht.â735
Es ist allerdings mehr als zweifelhaft, ob die vielfach kolportierte charakte-
ristische Geste Rathenaus736 fĂŒr Musil tatsĂ€chlich so traumatisch war.737 Hin-
sichtlich ihrer romanesken Verarbeitung ist die auch hier wiederholt erfolgte
BerĂŒhrung, ja Umarmung â âeine GebĂ€rde, die sich nun schon bewĂ€hrt zu ha-
ben schienâ (MoE 647) â indes von groĂer Bedeutung, fĂŒhrt sie in ihrer Ăber-
griffigkeit und angesichts der durch sie zutage getretenen Hilflosigkeit Ulrichs
doch einerseits dessen Einsamkeit und LiebesbedĂŒrftigkeit vor Augen, die in
die inzestuöse Geschwisterliebe mĂŒnden wird, andererseits aber auch seine
WiderstĂ€ndigkeit gegen die Vereinnahmung durch den GroĂschriftsteller738,
die sich in einer unwillkĂŒrlichen aggressiven Anwandlung Ausdruck verleiht :
Ulrich beneidete diesen Mann um sein GlĂŒck. Es schien ihm in diesem Augenblick
nichts leichter zu sein, als an ihm ein Verbrechen zu begehn, denn mit seinem Be-
dĂŒrfnis nach Bildhaftigkeit lockte dieser Mann auch diese alten Texte auf die Szene !
735 Mayer : Erinnerungen an Musil, S. 213.
736 Vgl. auch Kessler : Rathenau, S. 29, der berichtet, dass Rathenau schon seinem jĂŒngeren Bruder
Erich âvon oben herab den Arm beschĂŒtzend auf die Schulterâ zu legen pflegte â âeine Geste,
die ihm im vertrauten GesprĂ€ch mit Freunden immer natĂŒrlich blieb. Er spielte selbst bloĂen
Bekannten gegenĂŒber bis an sein Lebensende, oft nicht ohne AnstoĂ zu erregen, gern den
âgroĂen Bruderâ.â
737 Vgl. dazu Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 280, Anm. 226 : âBei Mu-
sils heftiger Reaktion bleibt es allerdings merkwĂŒrdig, warum diese Geste im Tagebuchheft
anders beschrieben ist.â
738 Dazu die eigenwillige psychoanalytische Deutung von Dettmering : Die DoppelgÀnger-Phan-
tasie, S. 455 f.: âArnheims BerĂŒhrung ist ein kalkulierter oder auch unbewuĂter Anschlag auf
jenen Teil in Ulrich, [âŠ] [d]er in der Rolle einer töchterlichen Vertrauten Schutz vor der ödi-
pal-inzestuösen Gefahr gefunden ha[t] : Indem Arnheim â selbst mitten in der Ădipussituation
stehend â diesen Teil in Ulrich anspricht oder vielmehr anrĂŒhrt, setzt er ihn in den Stand,
erstmals wieder mit diesem Teil seiner selbst zu kommunizieren. [âŠ] Abwehr und Möglichkeit
der Hingabe treten unmittelbar nacheinander ins BewuĂtsein [âŠ] ; die daraus resultierenden
MischgefĂŒhle von Bewunderung, Neid und Eifersucht schwĂ€chen seine Abwehr so sehr, daĂ er
wie Moosbrugger nach dem âDolchâ in seiner Tasche [âŠ] tastet.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208