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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1067
mit diesen anderen in einen Streit geraten, und ehe man es hindern konnte,
haben sie einen gemeinsamen BeschluĂ gefaĂt !â (MoE 1031) Einzelheiten
bleiben zunÀchst noch vage, allein der in Frage stehende Streitwert liegt von
Beginn an offen ; es geht â wie könnte es anders sein â um die von Feuermaul
propagierte ânatĂŒrliche GĂŒteâ und damit um das âWesenâ des Menschen :
Stumm von Bordwehr wuĂte nur zu berichten, daĂ er in ein ĂŒberaus lebhaftes Ge-
sprÀch mit einem jungen Manne geraten wÀre, dessen Beschreibung nicht ausge-
schlossen erscheinen lieĂ, daĂ es Hans Sepp gewesen sei. Jedenfalls war es einer von
denen, die einen SĂŒndenbock benutzen, dem sie die Schuld an allem Ăbel geben, mit
dem sie nicht fertig werden ; die nationale Ăberheblichkeit ist ja nur jener besondere
Fall davon, wo man sich aus reiner Ăberzeugung einen solchen SĂŒndenbock wĂ€hlt,
der nicht mit einem blutsverwandt ist und ĂŒberhaupt möglichst wenig Ăhnlichkeit
mit einem selbst hat. Nun ist es bekanntlich eine groĂe Erleichterung, wenn man sich
Ă€rgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, auch wenn er nichts dafĂŒr kann ; aber we-
niger bekannt ist das von der Liebe. Trotzdem ist es auch da geradeso, und die Liebe
muĂ oft an jemand ausgelassen werden, der nichts dafĂŒr kann, da sie sonst keine Ge-
legenheit findet. So war Feuermaul ein betriebsamer junger Mann, der im Kampf um
den Nutzen recht ungut sein konnte, aber sein Liebesbock war âder Menschâ, und
sobald er an den Menschen im allgemeinen dachte, konnte er sich an unbefriedigter
GĂŒte kaum genugtun. Hans Sepp war dagegen im Grunde ein guter Kerl, der es nicht
einmal ĂŒbers Herz brachte, Direktor Fischel zu hintergehn, und sein SĂŒndenbock da-
fĂŒr war âder undeutsche Menschâ, auf den er den Groll gegen alles lud, was er nicht
Ă€ndern konnte. WeiĂ der Himmel, was sie anfangs miteinander gesprochen hatten ; sie
werden wohl gleich ihre Böcke gegeneinander geritten haben, denn Stumm erzÀhlte :
âIch begreife wirklich nicht, wie das gekommen ist : auf einmal sind andere dabei ge-
wesen, dann hat es im Handumdrehn einen richtigen Auflauf gegeben, und schlieĂlich
sind alle, die in den Zimmern waren, um sie herumgestanden !â (MoE 1033 f.)
Nachdem der ErzĂ€hler anhand der ironischen Theorie von den âBöckenâ, die
den jeweiligen Ideologen als ProjektionsflĂ€che fĂŒr ihre Affektumleitung die-
nen, seine bereits frĂŒher eingeschlagene Strategie einer strukturellen Paralle-
lisierung zwischen aggressivem Nationalismus und altruistischem Pazifismus
wieder aufgenommen und plausibilisiert hat, lÀsst er den General in seiner
Berichterstattung fortfahren :
Der Feuermaul hat dem anderen zugerufen : âSie möchten hassen, aber das können
Sie gar nicht ! Denn die Liebe ist jedem Menschen eingeboren !â Oder so Ă€hnlich
warâs. Und der andere hat ihm zugeschrien : âUnd Sie möchten lieben ? Aber das kön-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208