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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1072
und das Gesetz (des StÀrkeren) selbst in die Hand nehmen wollen. Hierin
besteht eine weitere Facette des bereits mehrfach erwÀhnten772, eben nicht
nur psychologischen Zusammenhangs zwischen der auf radikalen Individu-
alismus gegrĂŒndeten Moral eines generellen Gewaltverzichts und einem an-
gesichts dieser ethischen Individualisierung drohenden kollektiven Gewalt-
ausbruch im Inneren Kakaniens. TatsÀchlich war die politische Geschichte
der Ersten österreichischen Republik von einem weitgehenden âVerlust des
staatlichen Gewaltmonopolsâ gekennzeichnet773 â eine Entwicklung, deren
Konsequenzen Musil wÀhrend der Niederschrift seines Romans tÀglich vor
Augen hatte. Profitieren konnten davon nur die gewaltbereiten Gruppen,
nicht die Pazifisten.
DarĂŒber hinaus birgt der von Feuermaul propagierte gesinnungsethische
Individualismus in Verbindung mit dem unerschĂŒtterlichen Glauben an die
ânatĂŒrliche GĂŒteâ des Menschen sogar auf zwischenstaatlicher Ebene eine la-
tente GefÀhrdung des Friedens, den er doch gerade zu sichern meint. Auch
dafĂŒr gibt Norbert Elias erhellende Anhaltspunkte, wenn er darauf hinweist,
daĂ auf der zwischenstaatlichen Ebene ein Gewaltmonopol fehlt. Auf dieser Ebene
leben wir heute im Grunde noch genauso, wie unsere VorvÀter in der Zeit ihrer so-
genannten Wildheit gelebt haben. [âŠ] Im zwischenstaatlichen Verkehr finden sich
Menschen heute nicht deswegen auf einer niedrigeren Stufe des Zivilisationspro-
zesses, weil sie angeborene AggressionslĂŒste haben, sondern weil sich bestimmte
soziale Einrichtungen herausgebildet haben, die im innerstaatlichen Verkehr jeder
staatlich nicht autorisierten GewalttÀtigkeit mehr oder weniger wirksam Einhalt ge-
bieten können, wÀhrend im zwischenstaatlichen Verkehr solche Einrichtungen noch
völlig fehlen.774
Vor diesem Hintergrund erweist sich Feuermauls ideeller Pazifismus als hoff-
nungslos naiv. Anstelle eines emphatischen Appells an die angeblich nur ver-
schĂŒttete âGĂŒteâ des Menschen bedarf es der von Anders bzw. Ulrich pos-
tulierten belastbaren gesellschaftlichen âInstitutionenâ (vgl. M I/6/49) im
inner- sowie im zwischenstaatlichen Bereich, um GewaltausbrĂŒche â auch in
Form von (BĂŒrger-)Kriegen â zu unterbinden. In diese Richtung zielt Mu-
772 Vgl. dazu auch die AusfĂŒhrungen zu Feuermaul in Kap. II.2.1.
773 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 287 ; vgl. ebd., S. 291, wonach es âvon gesamthi-
storischer Bedeutungâ sei, âdaĂ jeder der beiden wichtigsten WehrverbĂ€nde jeweils stĂ€rker als
das staatliche Machtmonopol, das Bundesheer, war. Das staatliche Berufsheer erreichte kaum
30 000 Mann.â Dies erinnert etwa an heutige VerhĂ€ltnisse im Libanon.
774 Elias : Studien ĂŒber die Deutschen, S. 230 f.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208