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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1075
ren ; so heiĂt es in einer Mischung aus ânarrativisierte[r] Redeâ785 und erzĂ€hle-
rischem Gedankenbericht :
Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht
man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung
gehalten wird ; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den
Anschein, nicht ganz erfĂŒllbar, und auf diese dĂŒrftige Weise also auch den, ein Ideal
zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie.
[âŠ] Und das zweite war : Phantasie ist nicht WillkĂŒr. Ăberantwortet man die Phanta-
sie der WillkĂŒr, so rĂ€cht sich das. (MoE 1028)
Ulrich moniert den Umstand, âdaĂ die verschiedenen ZeitlĂ€ufte den Ver-
stand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise
fixiert und verschlossen haben.â (MoE 1028) Es ist sein (und Musils) Lieb-
lingsthema, das er hier entfaltet, weil er darin den Grund fĂŒr die Zerrissenheit
und Zerstrittenheit der modernen westlichen Gesellschaft vermutet (womit
er in der altehrwĂŒrdigen Tradition von Schillers Konzept âĂ€sthetischer Erzie-
hungâ steht) :
Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist : eine trotz aller
Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte auf-
steigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der
GefĂŒhle, der Ideen, der Lebensmöglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie
als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. Weil eine wei-
tere Folge ist : daĂ es schlieĂlich eine Unzahl von Möglichkeiten gibt, so oder so eine
Meinung zu haben, sobald das ins Gebiet des grundsÀtzlichen Lebens reicht, aber
keine einzige Möglichkeit, sie zu einigen. Weil eine Folge ist : daà diese Meinungen
aufeinander losschlagen, da sie gar keine Möglichkeit haben, sich zu verstÀndigen.
Weil alles in allem die Folge ist, daà die AffektivitÀt in der Menschheit hin und her
schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat. (MoE 1028 f.)
Folgt man dieser Diagnose, dann können Hans Sepp und Feuermaul vor al-
lem aufgrund ihrer ziellosen AffektivitĂ€t786 sowie ihrer diagnostischen âWillkĂŒrâ
und mangelhaften âmoralischen Phantasieâ nicht zueinander finden. Insofern
hat Ulrich tatsĂ€chlich mehrerlei Grund, sich zu âfreuenâ (MoE 1031) : nicht
785 Vgl. Genette : Die ErzÀhlung, S. 122.
786 Vgl. Strutz : Politik und Literatur, S. 18, unter Bezug auf Arbeiten Helmut Arntzens und GĂŒn-
ther Grafs.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208