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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1077
Er sah in den VorgĂ€ngen des Abends, wenn sie auch nicht ohne UngestĂŒm waren
und durch miĂgĂŒnstige Auslegung sogar noch folgenschwer werden sollten, nur das
Beispiel einer unendlichen Unordnung. Herr Feuermaul erschien ihm in diesem Au-
genblick so gleichgĂŒltig wie die Menschenliebe, der Nationalismus so gleichgĂŒltig wie
Herr Feuermaul, und vergeblich fragte ihn Stumm, wie man denn aus dieser ĂŒberaus
persönlichen Stellungnahme den Gedanken eines greifbaren Fortschritts destillieren
solle. (MoE 1037 f.)
Ulrich verwirft die vorgefundene ideologische Alternative bzw. versucht, sie
gleichsam âmetaideologischâ aufzuheben. Entsprechendes deutet Musil sel-
ber in seiner nachgelassenen Mappe âFragen zur Reinschrift von Band IIâ
an, wenn er als âPendantâ bzw. Gegenthese zu Feuermauls Behauptung einer
ânatĂŒrlichenâ GĂŒte und Liebe des Menschen anfĂŒhrt : âMan kann nur seine
Schwester lieben. (Der Mensch möchte lieben, wenn er bloĂ könnte.)â (MoE
1857, nach M II/8/221) Dieser Eintrag suggeriert die allgemeine Liebes-
unfĂ€higkeit des Menschen, dessen Libido sich in der Selbstliebe â bzw. der
narzisstisch-inzestuösen Liebe des eigenen âEbenbildesâ, die letztlich auch
dem rassistischen Nationalismus Ă la Hans Sepp zugrunde liegt â erschöpft.
Howald deutet diese zur konzeptionellen SelbstverstÀndigung des Autors an-
gelegte Notiz dahingehend, dass âFeuermauls Menschenliebeâ im Romankon-
text als vage âKompensation fehlender personenbezogener Liebeâ erscheint.
Daraus folge : âFeuermauls satirisiertes Beispiel soll also das Experiment der
Geschwister als Kontrastbild nochmals legitimieren.â787 GestĂŒtzt wird diese
Interpretation auch durch Musils eigene Worte im Exposé des II. Bandes
âM o Eâ : âIch kontrastiere nun die beiden Thesen : Man kann nur seine Siame-
sische Zwillingsschwester lieben und : Der Mensch ist gut.â (MoE 1845, nach
M I/5/142) Mit dieser dichotomischen GegenĂŒberstellung ist eine zentrale
romankonstitutive Opposition benannt, aber noch keine Lösung angedeutet
â geschweige denn eine auf âhöherer Ebeneâ angesiedelte Aufhebung der Ge-
gensÀtze. Einen Ausweg im destruktiven Sinn bedeutet der Krieg, auf den die
romaneske Gesellschaft unerbittlich zulÀuft788, verspricht er doch zumindest
im Inneren Kakaniens eine Versöhnung von Nationalismus und Altruismus
787 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 363.
788 In der nachgelassenen Mappe âFragen zur Reinschrift von Band IIâ deutet Musil an, dass er
die naive Ideologie von der ânatĂŒrlichen GĂŒteâ des Menschen als mittelbare Voraussetzung
fĂŒr den Kriegsausbruch ansieht ; dort heiĂt es etwas kryptisch und in freilich ganz anderem
Zusammenhang : âDieses Problem : Immoralisten â falsche Moralisten setzt sich mit Lindner
fort. / Die Linie Krieg ist zu fĂŒhren ĂŒber : Es gibt keine bösen Menschen (eventuell schon Graf
Leinsdorf !) und der Mensch ist gut (Diotima-Feuermaul)â (M II/8/166).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208