Page - 1118 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 1118 -
Text of the Page - 1118 -
Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1118
Der vom liberalen österreichischen BildungsbĂŒrgertum geprĂ€gte, immer
um Relativierungen allzu apodiktischer Positionen bemĂŒhte EinzelgĂ€nger
Musil hat in dieser manichÀischen Struktur keinen sozialen Ort, was sich
auch in seiner politisch-ideologischen ExterritorialitĂ€t bzw. âOrtlosigkeitâ62
niederschlĂ€gt. Er entlarvt einerseits die ĂŒberkommene Vorstellung der Na-
tion, die von den hÀufig den höheren Chargen des MilitÀrs nahestehenden
âkonservativen RevolutionĂ€renâ vertreten wurde, als eine bloĂe âEinbildungâ.
Andererseits betont er aber ihre (auch bei Sportveranstaltungen oder Ăhnli-
chem zu beobachtende) EffektivitÀt in der Erzeugung des Anscheins sozialer
HomogenitÀt, die er als Resultat einer sachlich unangebrachten Ausformung
allgegenwĂ€rtiger menschlicher EinheitssehnsĂŒchte darstellt, und wendet sich
somit gegen diejenigen, die diese irrationalen BedĂŒrfnisse und Impulse auf-
grund einer dogmatischen Anthropologie ganz prinzipiell missachten. Indem
er mit beiden etablierten, aber antagonistischen Positionen bricht, versucht
er, das Undenkbare zu denken, âdas Unversöhnbare zu versöhnen, nĂ€m-
lich die beiden entgegengesetzten Prinzipien, die diese doppelte Ablehnung
bestimmenâ63. Durch seinen âzweifachen Bruchâ mit den etablierten Positio-
nen im literarischen Feld, eine forciert innovatorische Positionsnahme, hebt
er das Problem auf ein neues intellektuelles Niveau. Und indem er vor die-
sem Hintergrund seine Schriftstellerkollegen dazu aufruft, âdie Gesinnung zu
schaffen, die auf den Weg [einer âneuen möglichen Weltordnungâ, N. C. W.]
fĂŒhrtâ (GW 8, 1075), grenzt er sich sowohl von den zahllosen rassistischen
und nationalistischen Pamphleten sowie faschistoiden Hetzschriften ab, die
in den zwanziger Jahren das deutschsprachige literarische Feld ĂŒberfluteten,
als auch von den gegenlĂ€ufigen, idealistisch oder materialistisch begrĂŒndeten
Projekten eines humanistischen, anarchisch-spontanistischen oder parteige-
bundenen sozialistischen Internationalismus.64 Letzterer neigte ihm zufolge
dazu, die nicht zuletzt fĂŒr die Kunst konstitutiven irrationalen menschlichen
Triebe und BedĂŒrfnisse auszublenden. Deshalb sowie aufgrund des ihm hĂ€ufig
innewohnenden Dogmatismus betrachtete er ihn genauso wie den Nationalis-
mus als GefÀhrdung schriftstellerischer Autonomie.
62 So Amann : Robert Musil â Literatur und Politik, S. 18.
63 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 127 ; vgl. ebd., S. 61 f. u. 118â134.
64 Wie ein um 1940 erfolgter Eintrag ins Arbeitsheft 32 zeigt, hat Musil fĂŒr das âKleinbĂŒrgerglĂŒck
der Sozialdemokratie. Gemischt zur Rubiner-Leonhard Frank-Werfel Zeit mit etwas Liebe zu
allen Menschenâ nur wenig ĂŒbrig. Er notiert wegwerfend : âJournalistische Herkunft, zeitungs-
geistigâ und, fĂŒr ihn wichtiger noch : âDie GrĂŒndung des Menschen auf Macht ist nicht ĂŒber
Nietzsche hinaus gedacht.â (Tb 1, 993)
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208