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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1120
den Menschen sowohl in GĂŒte wie auch mit starker Hand verfahren muĂ, man
muĂ sie also lieben und kujonieren, damit es zu etwas Rechtem kommtâ (MoE
1154).66 Auch Ulrich, dem die Maxime von der ânatĂŒrlichen GĂŒteâ des Men-
schen wie eine âKarrikatur [sic] der Liebeâ vorkommt, hat starke âBedenken
gegen âDer Mensch ist gutââ (M II/8/137). Insofern entspricht er jener Reihe
von Relativierungen, die Musil zu dieser Maxime notiert : âDer Mensch ist gut.
1) Wenn er Geld hat : Tuzzi. 2) Wenn man [den] anderen Zustand miĂversteht.
3) Wenn man die Notwendigkeit der Richtbilder miĂversteht.â (M II/8/103 ;
vgl. M II/1/169) Zum praktischen Umgang mit dieser Voraussetzungslage be-
dĂŒrfe es hier verschiedener âAnwendungen der sozialen Affekt-Psychologie.â
(M II/1/169) âIm ganzenâ zeige sich darin das âProblem der Teilnahmeâ, denn :
â[N]icht der Mensch ist gut, sondern der andere Zustand.â Den emphatischen
Pazifisten hĂ€lt er deshalb entgegen : âEs ist lĂ€cherlich, die Menschen anzurufen.â
(M II/3/160) EinschlĂ€gig ist in diesem Zusammenhang Ulrichs frĂŒhere Aussage
in einem GesprĂ€ch mit Bonadea, wonach Moosbrugger nichts âfĂŒr seine Feh-
lerâ könne, âwenn man sie mit seinen eigenen Augen betrachtetâ, woraus folge :
âDer Mensch ist nicht gut, sondern er ist immer gut ; das ist ein gewaltiger Un-
terschied, verstehst du ? Man lĂ€chelt ĂŒber diese Sophistik der Eigenliebe, aber
man sollte aus ihr die Folgerung ableiten, daĂ der Mensch ĂŒberhaupt nichts
Böses tun kann ; er kann nur bös wirken. Mit dieser Erkenntnis wÀren wir am
rechten Ausgangspunkt einer sozialen Moral.â (MoE 262) Wie Musil hier am
Beispiel eines GesprĂ€chs ĂŒber seine Frauenmörderfigur vorfĂŒhrt, macht eine
Subjektivierung der Perspektive auch die Problematik der These vom âguten
Menschenâ sichtbar, den blinden Fleck, der ihr stets anhaftet, weil niemand
seine Selbstwahrnehmung von auĂen beobachten kann.
Die nachgelassenen Skizzen zeigen, dass Musil zwischenzeitlich sogar eine
eigene âDer Mensch ist gut-Sitzungâ geplant hatte (Blaue Mappe/120 ; vgl. M
II/8/74). Genaueres zum geplanten Sitzungskapitel geht aus einem Schmier-
blatt hervor :
Gegensatz zu der Mensch ist gut : Der Mensch muĂ geknechtet werden. Oder : Die
âeine Strömungâ sagt : Der Mensch braucht mehr Liebe. âDieâ andere âStrömung sagt :â
Tat, Kraft. / Genau genommen : auch die andere Strömung will natĂŒrlich den Men-
schen lieben. Aber dazu muĂ er vorher erst gewaltsam umgebildet werden. / LĂ€Ăt
sich das vereinen ? Ja. [âŠ] Auch eine mögliche Fragestellung : Was soll zuerst sein :
Geist oder Tat ? (Ei oder Henne [âŠ] usw). (M II/9/63)
66 Entsprechend die Randbemerkung Musils zu den Ăberlegungen im Nachlass : âEr ist schon gut,
aber nur wenn man ihn kujoniert.â (M II/8/101 ; vgl. M II/9/56)
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208