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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1121
Die recht kursorischen Bemerkungen geben zu erkennen, dass der (oben dis-
kutierte) psychologische und soziologische Zusammenhang von GĂŒte und
Gewalt als zwei Seiten einer Medaille67 auch als Verbindung von Gemein-
schaftsgefĂŒhl und Kriegertum â oder in Foucaults Worten : von Disziplinar-
und Pastoralmacht â beim MilitĂ€r veranschaulicht werden könnte.
Wie dem im Einzelnen auch sei, Musil ist sich jedenfalls bewusst : âDer
Versuch, die Gebote der Menschlichkeit â obgleich sie sich im Lauf der Zei-
ten so verschieden dargestellt haben â als etwas Heiliges und unmittelbar
aus dem Wesen BlĂŒhendes zu empfinden, ist so alt wie das Dasein von Ge-
boten.â (M VII/9/116) In einem gestrichenen Selbstkommentar erlĂ€utert er
dazu aus auktorialer Perspektive : âEs ist hoffnungslos, sie in dem Wesen zu
suchen, das wir zeigen oder in dem wir stecken. Der Mensch ist nicht gut,
er ist immer gut und bös gewesenâ (M VII/9/116). Diese EinschĂ€tzung aus
dem 1928/1929 entworfenen Kapitelprojekt âWarum die Menschen nicht gut,
schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollenâ deutet an, dass ein
Versuch der Ăberwindung der bestehenden anthropologischen Alternativen
seines Erachtens nur dann erfolgversprechend ist, wenn er von intrinsischen
Wesensbestimmungen des Menschen genauso Abstand nimmt wie von Ap-
pellen an die Moral, denn : âEuropa ist nicht ĂŒber seine unmoralischen BĂŒrger
in den Krieg gestĂŒrzt, sondern ĂŒber seine moralischen ! Ein GefÀà voller feh-
lerhafter Spannungen ist bei einem StoĂ in tausende StĂŒcke gesprungen.â (M
VII/9/116)
Den Versuch einer Synthese der skizzierten anthropologischen Frontstel-
lung im Sinne seines Gestaltlosigkeitstheorems formuliert Musil etwa in ei-
nem Essayfragment mit dem eigenwilligen Arbeitstitel und Nationalismus. In-
ternationalismus, das Frisé auf 1919/20 datiert hat. Dort stellt er zunÀchst fest :
âWir haben heute drei Auffassungen. Die eine kennt nur den Menschen, die
zweite nur den Ausgebeuteten und den Ausbeuter. Die dritte BeschrÀnktheit
ist der Nationalismus.â (GW 8, 1347, nach M IV/3/406) Wie der Wortlaut be-
reits unmissverstÀndlich klarstellt, handelt es sich bei den so unterschiedlichen
Ideologien des Pazifismus, des Sozialismus (bzw. Kommunismus) und des Na-
tionalismus jeweils um âBeschrĂ€nktheitenâ. Allerdings erscheint die meist als
antagonistisch strukturiert gezeichnete ideologische Gemengelage hier durch
eine dritte Position ergÀnzt, wodurch die dichotomische Struktur auf eine Tri-
chotomie ausgeweitet wird. Nachdem Musil die âNationâ als âein Abstraktumâ
gekennzeichnet hat und jedem âintellektuellenâ Nationalismus auch dadurch
den epistemologischen Boden entzieht, dass er den âgeistigen Menschenâ in
67 Vgl. die Ăberlegungen zu den Debatten um Feuermaul in Kap. II.2.1 und II.3.2.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208