Page - 1133 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 1133 -
Text of the Page - 1133 -
Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1133
tigt werden, in der âdie Wirklichkeit gar nicht vor[kommt], nicht einmal als
Problemâ (Tb 1, 33) ? Als besonders naiv gelten ihm die bloĂen âNaturschil-
dererâ, die angesichts einer problematisierten Wirklichkeitsvorstellung sowie
der hochtechnisierten modernen Welt generell letztlich âZustĂ€nde mit einem
Minimum von RealitĂ€tâ darstellten.109 Musil antizipiert damit jenen topischen
Befund, den Adorno mit freilich ganz anderer Terminologie und anderem epi-
stemologischen Hintergrund sowie impliziten Gegnern â gemeint ist offenbar
LukĂĄcs â folgendermaĂen gefasst hat :
Nicht nur, daà alles Positive, Greifbare, auch die FaktizitÀt des Inwendigen von Infor-
mationen und Wissenschaft beschlagnahmt ist, nötigt den Roman, damit zu brechen
und der Darstellung des Wesens oder Unwesens sich zu ĂŒberantworten, sondern
auch, daĂ, je dichter und lĂŒckenloser die OberflĂ€che des gesellschaftlichen Lebens-
prozesses sich fĂŒgt, um so hermetischer diese als Schleier das Wesen verhĂŒllt. Will
der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muĂ er
auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem
TÀuschungsgeschÀft hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Indivi-
duen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl fĂŒr den glatten Ablauf der
Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert
beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere
Kunstformen.110
Die Differenz zwischen Adorno und dem viel stÀrker durch Nietzsche geprÀg-
ten Musil besteht freilich darin, dass Letzterer wohl kaum auf die traditionelle
ontologische Unterscheidung zwischen âWesenâ und âScheinâ, zwischen unver-
fĂ€lschten âmenschlichen Eigenschaftenâ und deren âuniversaler Entfremdungâ
rekurrieren wĂŒrde â was ihn aus heutiger Sicht theoretisch avancierter er-
scheinen lÀsst.
Mit Blick auf die historische Entwicklung des ErzÀhlens differenziert Musil
zwischen drei unterschiedlichen âStufenâ : âMan erzĂ€hlt um des ErzĂ€hlens
109 Vgl. die Nachlassnotiz unter dem Stichwort Naturschilderer : âDie schreiben, daĂ der Buchfink
schlug und gerĂŒhrt die Zoologie und Botanik der Gegend aufzĂ€hlen, um sich und den Leser
in Stimmung zu versetzen, verfahren genau so und mit der gleichen RĂŒhrung wie Herr Me-
seritscher, der aufzÀhlt, wer da war und welche Kleider die Damen anhatten. Es ist ein asyn-
taktischer Geisteszustand mit Arriviertheit des Betrachters. Etwa ein gesunder Mensch, ein
Naturliebhaber sein. / Der nÀchste Schritt ist, die BÀume und Tiere zu anthropomorphisieren.
Der letzte : sich von Gott angeredet fĂŒhlen (oder von den Göttern) / Es sind ZustĂ€nde mit
einem Minimum von RealitĂ€t.â (GW 7, 840 f., nach M III/5/26 ; vgl. GW 8, 1254 f.)
110 Adorno : Standort des ErzÀhlers im zeitgenössischen Roman, S. 43.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208