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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1146
gesellschaftlichen Strukturen. In Ulrichs Worten : âDer Geist ist ins Leben ver-
flochten wie in ein Rad, das er treibt und von dem er gerĂ€dert wird.â (MoE
1152) Musils Tendenz zur verstĂ€rkten BerĂŒcksichtigung sozialer Aspekte
selbst bei der Thematisierung âgeistigerâ und âseelischerâ PhĂ€nomene, die er
wiederholt an seiner Arbeit konstatiert158, setzt er im Zweiten Buch zwar fort,
hĂ€lt sie aber nicht mehr konsequent durch. Die âindividualistischeâ Problema-
tik des âanderen Zustandsâ nimmt seiner eigenen EinschĂ€tzung zufolge einen
verhĂ€ltnismĂ€Ăig zu breiten Raum ein.159 Bezeichnenderweise fĂŒhrt er gegen
Ende seines Lebens im Arbeitsheft 33 die Probleme bei der Vollendung des
Romantextes auf seine (angeblich) zu geringe soziologische Versiertheit zu-
rĂŒck :
Es fiel mir [âŠ] ein, weshalb ich [âŠ] an solchen Arbeitshemmungen litt. Meine gei-
stige AusrĂŒstung fĂŒr den Roman war dichterisch, psychologisch, und z. T. philoso-
phisch. In meiner jetzigen Lage bedarf es aber des Soziologischen und wessen [sic]
dazugehört. Darum verlaufe ich mich immer hilflos in Nebenprobleme, die ausei-
nander-, statt zusammengehn. Oft habe ich den Eindruck, daĂ meine geistige Kraft
nachlĂ€Ăt ; aber eher ist es wahr, daĂ die Problemstellung ĂŒber sie hinausgeht. (Tb 1,
963 f.; vgl. dazu Tb 2, 734 f.)
Indem der spĂ€te Musil fehlende Kenntnisse des âSoziologischenâ fĂŒr seine
Schwierigkeiten mit der Romanfertigstellung verantwortlich macht, bestÀtigt
er noch einmal die zentrale Bedeutung der sozialen Dimension fĂŒr sein ganzes
Projekt. Dies ist eine wichtige Konsequenz aus seinem Theorem der âmensch-
lichen Gestaltlosigkeitâ : Der analytische Blick auf den âinneren Menschenâ
bedingt jenen â erkenntnislogisch vorgelagerten â auf die âgesellschaftliche
Organisationâ. Erst dessen geglĂŒckte erzĂ€hlerische Integration erlaubt es dem-
nach, die universelle Ausweitung des Gegenstandsbereichs eines Romans in
alle erdenklichen Richtungen zu realisieren.
Mit dem universell erweiterten Gegenstandsbereich geht programmatisch
ein qualitativ neuer erzĂ€hlerischer Explizitheitsanspruch einher, den ârealisti-
scheâ ErzĂ€hlkonzepte Ă la Flaubert noch nicht kannten. Wie bereits erwĂ€hnt,
ist âDichtungâ fĂŒr Musil ânicht bloĂ Schilderung, sondern in erster Linie Aus-
158 Vgl. etwa den Brief an Franz Blei, 31.5.1931 : â[I]m Lauf der Arbeit komme ich, soviel sich se-
hen lĂ€Ăt, immer weiter vom persönlichen Komplex ab, zum sozialen, den das bedeutet.â (Br 1,
519)
159 Vgl. die Selbstkritik im Nachlass : âZu diesem anderen Zustand, als zu individualistisch, ist
aber gleich die soziale Problematik hinzuzunehmen, meiner heutigen Situation gemĂ€Ă.â (M
II/8/192)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208