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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1148
Positivierung der Ambivalenz.162 Wie eine solche widerspruchsvolle Verbin-
dung von âFeindschaft und MitgefĂŒhlâ in der literarischen Darstellung konkret
aussehen kann, demonstriert er in den VermÀchtnis-Notizen, die sein Konzept
der âkonstruktiven Ironieâ gegen deren VerstĂ€ndnis als âSpott und Bespöttelnâ
profilieren :
Ironie ist : einen Klerikalen so darstellen, daĂ neben ihm auch ein Bolschewik ge-
troffen ist. Einen Trottel so darstellen, daĂ der Autor plötzlich fĂŒhlt : das bin ich ja
zum Teil selbst. Diese Art Ironie, die konstruktive Ironie, ist im heutigen Deutschland
ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervor-
geht. (MoE 1939)
Bei der bisweilen sarkastisch wirkenden erzÀhlerischen Gesellschaftsanalyse
Musils, die sich extensiv der relationierenden Erzeugung von âAnalogien
und Variationenâ bedient, gilt demnach wie bei der soziologischen Analyse
Bourdieus, âdaĂ der Verfasser den einen oder anderen mehr oder weniger
âbösartigenâ Satz auch auf sich selbst beziehtâ ; es ist also keineswegs âals
bewuĂte Bosheit [zu] interpretieren, was in Wirklichkeit Anamnesearbeit ist
â Sozioanalyseâ.163 Der Zweck der Ăbung besteht in Erkenntnis und Selbst-
erkenntnis, mag sie auch noch so bitter sein. Musils Konzept der universali-
sierten erzĂ€hlerischen Ironie, die sich mit Luhmann als forcierte âEntlarvung
von RealitĂ€tâ bzw. als radikalisierte âHerstellung von Weltkontingenzâ be-
schreiben lĂ€sst (im Sinne des âMöglichkeitssinnsâ)164, erlaubt ihm eine radi-
kalere analytische Entschleierung der gesellschaftlichen und ideologischen
Strukturen165, als das einem realistischen ErzÀhlprogramm mit mimetischem
Darstellungsanspruch und ausdrĂŒcklichem Reflexionsverbot oder aber mit ei-
ner affirmativen Vorstellung von Ironie166 möglich gewesen wÀre. Zugleich
162 Zur schwierigen und trotz aller Anstrengungen wohl noch nicht erschöpfend behandelten
Thematik der erzÀhlerischen Ironie bei Thomas Mann und Musil vgl. Alt : Ironie und Krise ;
speziell zu Musil vgl. Strelka : Zu den Funktionen der Ironie in Musils Roman ; Swales : Fiktiv
leben und konjektural schreiben ; Wallner : Ironie als Strategie indirekter RationalitÀt bei Musil ;
HĂŒsch : Ăber die Bedeutung der Ironie in Musils Roman.
163 Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropologie, S. 96.
164 Luhmann : Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 625 f.
165 Zur erzĂ€hlerischen Umsetzung des Programms der âkonstruktiven Ironieâ in der rhetorischen
âInteraktionsfigur der Hypallageâ vgl. Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 272â274, Zit.
S. 274.
166 Musils eben zitiertes Essayfragment Das Gute in der Literatur hÀlt zu Thomas Mann in diesem
Sinne fest, es sei an ihm âungemein deutlich zu sehn, wie das, was er selbst âunordentlichâ
nennt und was natĂŒrlich ebensogut Elemente einer Gegenordnung sein können, im Kampf
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208