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und Romanheld in der Moderne â Musils indirekte Selbstanalyse
risch explizitere und weniger sublimierte â als bei Flaubert, was sich auch der
vergleichsweise fortgeschrittenen Entwicklung des kĂŒnstlerischen âRaums der
Möglichkeitenâ um 1930 verdankt. WĂ€hrend Flaubert nach Bourdieus Analyse
die eigene âUnbestimmtheit, Unentschlossenheit [âŠ] durch die nachtrĂ€gliche
Aneignung seiner selbst im Akt des Schreibens der Geschichte von Frédéric
[sublimiert]â38, also gewissermaĂen deutlich macht, was er geworden wĂ€re,
hÀtte er nicht geschrieben, legt Musil im Medium seines Romanhelden scho-
nungslos die sozialen Voraussetzungen und Grenzen des âreinenâ Blicks offen
und macht zudem deutlich, was der als unbestechlicher Beobachter konzi-
pierte Protagonist Ulrich werden mĂŒsste, wĂŒrde er schreiben â nĂ€mlich genau
das Gegenteil des von Paul Arnheim verkörperten modernen âGroĂschriftstel-
lersâ39, jener Karikatur des im deutschsprachigen Raum von Thomas Mann
etablierten Modells moderner Autorschaft :
Er mĂŒĂte herzliche Einladungen ablehnen, Menschen zurĂŒckstoĂen, Lob nicht wie
ein Belobter, sondern wie ein Richter bewerten, natĂŒrliche Gegebenheiten zerreiĂen,
groĂe Wirkungsmöglichkeiten als verdĂ€chtig behandeln, nur weil sie groĂ sind, und
hĂ€tte als Gegengabe nichts zu bieten als schwer ausdrĂŒckbare, schwer zu bewertende
VorgÀnge in seinem Kopf und die Leistung eines Schriftstellers, worauf ein Zeitalter,
das schon GroĂschriftsteller besitzt, wirklich nicht viel Wert zu legen braucht ! WĂŒrde
ein solcher Mann nicht auĂerhalb der Gemeinschaft stehen und sich mit allen Fol-
gen, die das hat, der Wirklichkeit entziehen mĂŒssen ? ! (MoE 432)
Der ErzÀhler legt diese Gedanken Ulrichs Gegenspieler Arnheim in den Mund
und markiert damit dessen aufs ernsthafteste gehegte âMeinungâ (MoE 432).
Liest man die negativen Wertungen allerdings ironisch, dann kann das Zitat
in allen Einzelheiten als persönliches Credo Ulrichs verstanden werden, der ja
tatsĂ€chlich immer mehr âauĂerhalb der Gemeinschaft stehtâ und sich als essay-
istischer Denker programmatisch âder Wirklichkeit entziehtâ. Auf einer anderen
Ebene bezeichnet die strikte Verwahrung gegenĂŒber allen Vereinnahmungsver-
suchen auch Musils eigenes SelbstverstÀndnis als Autor und Intellektueller40
â nicht von ungefĂ€hr hat er sich selbst in einer undatierten Nachlassnotiz als
38 Vgl. ebd., S. 55.
39 Vgl. dazu und zum Folgenden den Abschnitt ĂŒber Ulrich und Arnheim in Kap. II.3.2.
40 Musils striktes Beharren auf dem kĂŒnstlerischen Autonomiepostulat geht etwa aus einem Ein-
trag in sein Arbeitsheft 31 vom 1. MĂ€rz 1930 hervor, in dem er zum âUllsteindienst an der
Menschheitâ abschĂ€tzig feststellt : âWelche glatte Phrasenhaftigkeit steckt in dem Wort Geistiger
Arbeiter. Ein Arbeiter ist einer, der eine ihm aufgetragene Arbeit ausfĂŒhrt !â (Tb 1, 815 ; vgl. dazu
Tb 2, 596)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208