Seite - 12 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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12 Einführung
dem Signum von Flucht und Vertreibung, ereignete. Dieser Prozess der Entrech-
tung und Entpersonalisierung stellt jedoch nicht bloß einen nationalsozialistischen
Willkürakt dar, sondern die wie in einem Zeitraffer vorgenommene Umkehrung
des Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Emanzipationsprozesses.12 Der auf den
ersten Blick abstrus anmutende Verordnungswust der Nationalsozialisten entpuppt
sich bei genauerer Analyse als geplante und systematische Rückführung der histori-
schen »Judenemanzipation« mit ihren einzelnen Bausteinen : Öffnung der Schulen
und Hochschulen, Einbeziehung in immer weitere Berufsfelder, Einbeziehung in die
Militärpflicht, die allgemeine Steuerpflicht, Gewerbefreiheit, Grundbesitzfähigkeit,
Freizügigkeit, Wahlrecht, Zeugenfähigkeit, Ehefähigkeit (mit christlichen Partnern).
All dies wird apart und in Einzelschritten zurückgeführt, bis ein seiner personalen
Würde beraubtes, unter kein Recht und keinen staatlichen Schutz mehr fallendes
Wesen übrig blieb, welches der Vernichtung preisgegeben war. Nach nationalsozia-
listischer Logik war die Ausbürgerung der Juden (als vormals österreichische Staats-
bürger, dann deutsche Staatsangehörige) ein zwingend gebotener Schritt. Er ging der
Vernichtung mit Notwendigkeit voraus. Die Analyse der Elften Verordnung zum
Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 und ihrer Bedeutung im Hinblick auf
die »Endlösung« nimmt in dieser Untersuchung deshalb einen besonderen Platz ein.
Der Begriff »österreichische Juden« wurde weitestmöglich gefasst : Gemeint sind
nicht nur die Juden des deutschen Sprach- und Kulturraums, sondern ebenso die
böhmischen, mährischen, ungarischen, italienischen, galizischen und bukowini-
schen Juden. Gemeint sind gleichermaßen Aschkenasen und Sepharden, orthodoxe,
chassidische, rabbinische, assimilierte und glaubenslose Juden, Zionisten, Sozialisten
und Kaisertreue, »West«- wie »Ostjuden«. Dabei zeigt sich das Judentum als ebenso
vielgestaltig, fragmentiert und diversifiziert wie das Österreichische, das im Untersu-
chungszeitraum nach Umfang (des Staatsgebietes) und Begriff den größtmöglichen
Wandlungen unterlag13 vom sich herausbildenden Territorialstaat des aufgeklärten
Absolutismus im späten 18. Jahrhundert über den Einheitsstaat des Neoabsolutis-
mus, die duale Staatsform der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Erste Re-
publik, bis hin zur Auslöschung österreichischer Staatlichkeit in der Zeit der natio-
nalsozialistischen Herrschaft und
– nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
– zu der
wiedererrichteten Republik Österreich. Ständigen Transformationen aber, so wird zu
12 Ausführlicher zur Ausbürgerung : Hannelore Burger/Harald Wendelin : Vertreibung, Rückkehr und
Staatsbürgerschaft. Die Praxis der Vollziehung des Staatsbürgerschaftsrechts an den österreichischen
Juden, in : Staatsbürgerschaft und Vertreibung (= Veröffentlichungen der Österreichischen Histori-
kerkommission 7), Zweiter Teil (Wien 2004), S. 239–501, hier : S. 267ff.
13 Siehe den einleitenden Aufsatz »Vom Umfang der österreichischen Geschichte« von Gerald Stourzh
in dem gleichnamigen Band : Gerald Stourzh : Vom Umfang der Geschichte. Ausgewählte Studien
1990–2010 (Wien/Köln/Graz 2011), S 11–37.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271