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16 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
längste Zeit für Juden äußerst unterschiedliche staatsbürgerliche Rechte24, sondern
nach dem Ausgleich von 1867 (im Rahmen der Doppelmonarchie Österreich-Un-
garn) auch zwei gänzlich verschiedene, wenig miteinander kompatible Staatsbürger-
schaftsmodelle. Darüber hinaus führt die unreflektierte Einschreibung in eine West/
Ost-Dichotomie, wie Benno Gammerl zu Recht festgestellt hat, implizit zu einer
ahistorischen Betrachtungsweise von Staatsbürgerschaft, da sie nicht nur den Blick
auf den imperialen Kontext verstellt, sondern auch auf die Transformationsprozesse,
denen die verschiedenen Staatsbürgerschaftsmodelle im Laufe der Jahrhunderte un-
terlagen.25
Die Frage, von welchem Zeitpunkt an man von einer Staatsbürgerschaft der Ju-
den in Österreich – oder umgekehrt von Juden und Jüdinnen als österreichischen
Staatsbürger/innen – überhaupt sprechen kann, lässt sich kaum mit einem Datum
beantworten. Wir gebrauchen heute im Allgemeinen den Begriff Staatsbürgerschaft
nur dann, wenn, im Sinne etwa der klassisch gewordenen Studie von Thomas H.
Marshall26, damit auch die vollen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte
einhergehen. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird allerdings übersehen, dass
der Begriff Staatsbürger in Österreich zu einer Zeit aufkommt, als von bürgerlichen
und politischen Rechten (in modernem Sinn) noch keine Rede ist.27 So verwen-
det etwa Carl Anton von Martini, der Schöpfer des »Westgalizischen Gesetzbuches«,
den Begriff Staats-Bürger bereits wenige Jahre nachdem dieser durch Wieland und
Kant populär geworden war.28 Im Unterschied zu Preußen aber wird der anstelle des
24 Positiv wertet dies vor allem Rogers Brubaker, der sein favorisiertes Modell »wohlwollender Diffe-
renzierung«, jenseits der beiden Gegenmodelle ius soli und ius sanguinis, am ehesten in »der mär-
chenhaft komplexen Welt des Habsburgerreiches« unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg
verwirklicht sieht. Rogers Brubaker : Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen
Vergleich (Hamburg 1994), S. 230. Zu den Transformationen des österreichischen Staatsbürger-
schaftsmodells vgl. Burger, Staatsbürgerschaft, S. 171.
25 Benno Gammerl : Subjects, citizens and others : the handling of ethnic differences in the British
and the Habsburg Empires (late nineteenth and early twentieth century), in : European Review of
History – Revue européenne d’histoire, 16.4 (2009), S. 523–549, hier : S. 525 sowie ausführlicher
in seiner Dissertation : Benno Gammerl : Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit
ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918 (=
Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft 189) (Göttingen 2010), S. 12.
26 Thomas H. Marshall : Bürgerrechte und soziale Klassen, hg. Elmar Rieger (= Theorie und Gesell-
schaft 22) (Frankfurt/Main 1992).
27 Zum Begriff »Staatsbürger« vgl. Paul-Ludwig Weinacht : »Staatsbürger«. Zur Geschichte und Kritik
eines politischen Begriffs, in : Der Staat 8 (1969), S. 41–63.
28 »Jeder Staatsbürger ohne Unterschied des Ranges, des Standes oder Geschlechtes ist verpflichtet,
die allgemeine Wohlfahrt des Staates durch genaue Befolgung der Gesetze möglichst befördern zu
helfen.«, heißt es im »Urentwurf für ein allgemeines österreichisches Gesetzbuch« von 1797, kurz :
»Westgalizisches Gesetzbuch« genannt, zit. nach : Hannelore Burger : Zum Begriff der österreichi-
schen Staatsbürgerschaft. Vom josephinischen Gesetzbuch zum Staatsgrundgesetz über die allgemei-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271